Anmut in Suburbia

Jugendlicher Selbstekel revisited: Sex und Gewalt, das sind die Lieblingsthemen des Kinoregisseurs Larry Clark. In „Ken Park“, seinem neuen Film, schwingt eine sublime Traurigkeit in den Bildern mit

VON ANDREAS BUSCHE

Zu kalifornischem Punkrock fliegt die Kamera durch eine flache kalifornische Einöde, vorbei an den spärlichen Ansätzen einer Agrarkultur, an Mustersiedlungen mit Musterhäuschen, bis sie zu einem einsamen Skater aufschließt. Ihm auf den Fersen geht die Fahrt weiter durch saubere Vorstadtstraßenzüge (das „Skaten Verboten“-Schild wird en passant registriert), vorbei an der örtlichen Shopping Mall, dem Polizeirevier, der Kirche und endet schließlich in einem Skate-Park – bis zum Schluss der einzig sichtbare Versammlungsort der Jugendlichen.

Diese exemplarischen Stationen einer amerikanischen Kleinstadtsozialisation fährt Larry Clarks neuer Film „Ken Park“ ab, noch während die Titelcredits laufen. Der Skate-Park ist dabei wahrlich ein symbolträchtiger Ort für suizidale Teenager: Wo die Stadtplaner den Kids etwas öffentlichen Raum zum Abreagieren gelassen haben, entlädt sich die persönliche Unzufriedenheit über die eigene Jugend. Ken Park, kaum eingeführt, bringt seine DV-Kamera in Stellung und jagt sich eine Kugel in den Kopf. Kurz vorher hat er noch einmal gelächelt.

Mit einem Selbstmord beginnt also der Film, eine lose verknüpfte Geschichte um eine Hand voll Jugendliche. An diesem Punkt, dem Tod, endeten bisher die Filme Larry Clarks. Etwas hat sich mit „Ken Park“ geändert. Und es sind nicht die Lebensumstände, die Clark hier beschreibt. Die sind immer noch lieblos und verkommen. Ein Vater begeht in einem Anflug von religiösem Wahn ein bizarres Hochzeitsritual mit seiner eigenen Tochter, weil er sie bei der Fellatio mit einem Klassenkameraden aus dem „Bibelunterricht“ erwischt hat. Ein anderer Jugendlicher holt sich mithilfe einer Gürtelschlinge einen runter (zum Gestöhn von Damentennis!). Sex und Gewalt, seit seinen frühen Fotobänden „Tulsa“ und „Teenage Lust“ die Lieblingsthemen Clarks, bestimmen auch in „Ken Park“ das Zusammenspiel der Menschen. Aber eine neue Sanftheit macht sich unter den desolaten Bildern bemerkbar. Der Ton klingt versöhnlicher, als man es bei Clark gewohnt war.

Vielleicht auch weil die Häuser in „Ken Park“ mit Familienporträts voll gestellt sind. Meistens evozieren sie nichts als ungute Erinnerungen, wie bei Claudes Vater, wenn er volltrunken in das Zimmer seines schlafenden Sohnes torkelt, um ihm an die Wäsche zu gehen. Oder bei Shaun, der so etwas wie die Erzählerrolle übernimmt: die Bilder einer glücklichen Familie – High-School- und Babyfotos erinnern ihn daran, dass er gleichzeitig mit Mutter und Tochter schläft. (Später sieht man diese Musterfamilie einträchtig auf der Veranda ihres Hauses beisammenstehen; ihr All-American-Lächeln ist ein Hohn.) Eine sublime Traurigkeit schwingt in diesen Bildern mit, von der Eltern wie Kinder gleichermaßen befallen sind. Das Gefühl, dass sie es eigentlich alle besser verdient hätten. Es ist diese Melancholie, die „Ken Park“ maßgeblich von „Kids“ (1995), Clarks erster Zusammenarbeit mit Harmony Korine als Drehbuchautor, unterscheidet.

Nicht nur räumlich, auch ideologisch liegen die Milieus, in denen die Filme Harmony Korines („Gummo“, „Julien Donkey-Boy“) und Larry Clarks angesiedelt sind, weit auseinander: Wo in der White-Trash-Heimeligkeit von Korines Regiearbeiten immer wieder die krude Faszination hipper Mittelstandskinder am Outsider-Lifestyle im Trailerpark durchkommt, haben die Filme Clarks diese masochistische Form des Selbstekels bereits überwunden. Seine Kids (tendenziell eher aus der Mittelklasse stammend) sind nicht weniger abgefuckt als die Korines, aber zumindest können sie noch ihre Sehnsüchte artikulieren – ganz bürgerliche mitunter auch: die nach einer intakten Familie zum Beispiel. Clarks bester Film, „Another Day in Paradise“, handelt von zwei gedrogten Teenagern, die in einem schmierigen Kleinkriminiellenpärchen eine Ersatzfamilie suchten. Clark selbst nannte „Another Day in Paradise“ damals seinen „Familienfilm“.

Um Mütter und Väter geht es auch in „Ken Park“, und sie kommen überraschend gut dabei weg. Zum Beispiel wenn die Skaterjungs zusammen kiffen und sich dabei über ihre Erzeuger aufregen. Alles Bastarde. Saufen und prügeln, das können sie. Aber plötzlich fängt einer von ihnen an, von seinem toten Vater zu erzählen. Und irgendwann sagt er dann einfach so, dass Väter vielleicht elende Bastarde seien, aber jeder von ihnen lernen sollte, seinen Vater für das, was er ist, zu schätzen – solange man einen hat. Man könnte vielleicht eine gewisse Ironie dahinter vermuten, dass Clark sich für die Schlusscredits einen Song der Shaggs, einer dilettantischen Sixties-Girl-Group, ausgesucht hat. Er heißt „Who are Parents“ („Parents are the ones who really care“), doch der schräge Gesang und die verstimmten Instrumente der Mädchen lassen keine Rückschlüsse darauf zu, wie ernst es Clark in diesem Punkt wirklich ist – die Mädchen sind von ihrem Vater zum Musizieren gezwungen worden.

Dieser neuen Fürsorglichkeit Clarks ist auch das Lichtkonzept geschuldet. Ed Lachman, der sich mit Clark die Regie von „Ken Park“ teilt, hat sich merklich dem realistischen Stil des Siebziger-Jahre-Kinos orientiert. Wohl nicht zufällig erinnert „Ken Park“ mit seinen blassen Farben an Jonathan Kaplans „Wut im Bauch“. Von den aufwühlenden Farb- und Lichtspielen, mit denen Lachman zuletzt ein ganz anderes Suburbia-Drama, Todd Haynes „Dem Himmel so fern“, ausgestattet hat, ist „Ken Park“ Lichtjahre entfernt. Die Absichten könnten auch nicht gegensätzlicher sein. Die Fallen einer Gettoisierung haben Clark und Lachman mit „Ken Park“ geschickt gemieden. Stattdessen fließt das Licht natürlich in alle Richtungen. Es ist ein Kalifornien, wie man es im Kino heute nur selten zu sehen kriegt: vom Sonnenlicht ausgebleicht und vom trockenen Klima ausgezehrt.

Wie kann ein jugendliches Utopia in dieser Tristesse schon aussehen? 16-mal am Tag Sex haben natürlich, mit 16 unterschiedlichen Frauen. Aber der Sex ist in „Ken Park“ nicht einmal das Beste. Viel schöner ist, dass Clark seine Laiendarsteller dabei zum ersten Mal in Anmut gefilmt hat.

„Ken Park“. Regie: Larry Clark, Ed Lachman. Mit Stephen Jasso, James Ransome, Tiffany Limos. USA/Niederlande 2002, 95 Min.