Die Schule der Empfindsamkeit

Wunder gibt es immer wieder – besonders im Sport: Mit dem neuen Spielfilm „Miracle“ erinnert Hollywood nun an „Das Wunder von Lake Placid“, den Überraschungserfolg des US-Eishockeyteams bei der Olympiade von 1980. Ein paar Gedanken zum schier unerschöpflichen Genre des Sportfilms

Über die Verlierer erfährt man wenig – weder im Kino noch in der „Sportschau“

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Sport ist spannender als Kino, weil man nie sicher sagen kann, wie es ausgeht: das Spiel, das Rennen, das Match. In einer medienfixierten Welt, in der die Ereignisse immer ausgeklügelter inszeniert werden, erscheint der Sport manchmal wie das letzte Refugium des Unvorhersehbaren. Wo sonst ist ein im medialen Sinne so ungünstiger Ausgang wie der Sieg der wenig glamourösen Griechen bei der diesjährigen Fußball-Europameisterschaft noch vorstellbar? Beim Sport mitzufiebern ist deshalb mit einem gewissen emotionalen Risiko behaftet: Nicht immer wird man mit den Hochgefühlen des Siegens belohnt, oft genug muss man den Einsatz der Empfindungen im wahrsten Sinne des Wortes verschmerzen.

Im Kino dagegen weiß man im Grunde ziemlich genau, worauf man sich einlässt. Selbst wenn am Ende manches Drehbuch Kapriolen schlägt, um den Zuschauer zu verblüffen, ist man vor den wirklich unliebsamen Überraschungen meist schon durch das box-office-Interesse der Produzenten gefeit. Und das ganz besonders im Genre des Sportfilms, der zumindest in der Hollywoodvariante fast ausschließlich vom Sieg der Richtigen handelt. Womit auch schon das inhärente Problem des Genres beschrieben wäre: „Einen Sportfilm anzusehen, der ‚Das Wunder‘ heißt, ohne das Ende vorhersagen zu können, ist ungefähr so, wie darüber zu rätseln, ob das Boot am Ende von ‚Titanic‘ auch wirklich untergeht“, schrieb ein Kritiker, als der Film „Miracle“ in den USA herauskam.

Allerdings nimmt im Fall von „Miracle“ weniger der Titel den Ausgang vorweg als vielmehr die reale Sportgeschichte; schließlich handelt es sich um die Verfilmung jenes legendären Eishockeysiegs, den die US-Amerikaner 1980 während der Olympischen Winterspiele in Lake Placid über die bis dahin dominierenden Sowjets errangen. Der Verweis auf „Titanic“ belegt jedoch, dass selbst die vorhersehbarsten Enden beim Zuschauer noch Spannung erzeugen können, wenn das Ganze entsprechend emotional aufbereitet wird.

Ein Film wie „Titanic“ auf der einen und das reale Sportereignis auf der anderen Seite, darin spiegelt sich auch ein – nur vielleicht überkommenes – Schema des geschlechterspezifischen Umgangs mit Intensitäten: Wo das Melodrama, der „woman’s film“, mit seinen vorhersehbaren Wendungen und Verzichtserklärungen die traditionelle „Schule der Empfindsamkeit“ für Frauen darstellt, ist der Sport mit seinen Frustrationen, ungerechten Niederlagen und überraschenden Siegen die der Männer. Oder (wie es Anfang des Jahres eine Tabakfirma mit einem Werbeplakat illustrierte, auf dem zwei Männer mit tränenden Augen und schmerzverzerrten Mündern zu sehen waren, vollkommen ergriffen von etwas, dem sie gerade zuschauten – zweifellos ein Sportereignis) der „Männer, die Gefühle zeigen“.

Sportfilme versprechen so betrachtet eine gewisse Vermittlung zwischen diesen Polen. Sie sind die risikoarme Aufbereitung jener Ereignisse, bei denen sich realiter nur mit der Bereitschaft für schmerzhafte Enttäuschungen mitfiebern lässt. Was aber passiert mit der Intensität der Empfindungen, wenn sie nicht mehr spontan und real sind, sondern inszeniert, dramatisiert und geplottet? Im Hin und Her zwischen Sport und Kino gibt es etwas, das nie ganz aufgeht, wie zum Beispiel, dass auch die zur Selbstdarstellung begabtesten Sportler nie wirklich ganz zu Darstellern werden. Stets bleibt eine Art Restpeinlichkeit an ihnen haften, die ihre „Normalmenschlichkeit“ verbürgt. Wer darüber hinauswächst, wird als Sportler höchst verdächtig. Andererseits gehört es schon immer zur Sportberichterstattung, aus den Ereignissen, noch während sie geschehen, Geschichten zu formen, die bestimmten Erzählmustern folgen. Das beliebteste davon ist sicher die Außenseiterlegende beziehungsweise der Kampf David gegen Goliath.

So ist der Sport immer schon bereits ein bisschen Kino. Dem Film „Miracle“ hat der deutsche Verleih die erklärende Unterzeile „Das Wunder von Lake Placid“ beigegeben und ihn damit genauso in ein bestimmtes Erzählmuster eingereiht: „Wunder“ ist die Chiffre für einen Sportsieg, an dem sich das geknickte Selbstbewusstsein von Nationen aufrichtet. „Unser“ Wunder war vor fünfzig Jahren in Bern, das der Amerikaner fand 1980 in Lake Placid statt. Und beide Male prägt die Berichterstattung die Legende schon in der Entstehung: Was für die Deutschen Heribert Zimmermanns Torschreipathos, ist für die Amis der Ausruf des Sportmoderators Al Michaels: „Do you believe in miracles? Yes!“

Die Gründe, die dazu führten, dass die USA dieses „Wunder“ so bitter nötig hatten, werden in „Miracle“ als Vorspann abgespult: Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen, Nixons Rücktritt, Carters Vereidigung, Elvis’ Tod, die Ölkrise, das Reaktorunglück von Three Mile Island, das Geiseldrama in der Botschaft von Teheran, der sowjetische Einmarsch in Afghanistan. Das waren die Siebziger! Die Olympischen Spiele hatten im Kalten Krieg eine besonders aufgeladene Bedeutung. Im Wettstreit sollte sich die Überlegenheit des jeweiligen Systems zeigen: Wer zog die besseren Sportler heran, der Kasernensozialismus oder das freie Spiel der Kapitalkräfte? Wie lange das alles im Übrigen schon her ist, sieht man an einem Filmfehler: Auf ihrem glorreichen Weg ins Finale spielten die Amerikaner auch gegen „West Germany“, das die Anzeigetafel im Film aber als „GDR“ ausgibt. Was einst eine skandalöse Verwechslung gewesen wäre, ist heute nur noch eine Spitzfindigkeit.

Ansonsten verblüfft an „Miracle“, wie gut sich die wahre Geschichte in die Formel des Hollywoodsportfilms pressen lässt: Da gibt es zu Beginn die obligatorische aussichtslose Lage des US-Eishockeyteams. Dann wird der neue Trainer vorgestellt, ein schweigsamer Mann mit Visionen, an denen er unbeirrbar festhält. Was unweigerlich dazu führt, dass über so manchen Rückschlag, über viele Schwierigkeiten und gar eine Tragödie hinweg die Mannschaft zusammenwächst und … das Ende kennen wir bereits.

So sieht sie also aus, die emotionale Aufbereitung des vorhersehbaren Ausgangs. Deutlicher noch als in jedem anderen Genre werden im Sportfilm die Überwindung der Hindernisse und die mentale Läuterung der Figuren gefeiert. Dass „Miracle“ trotz dieser ausgeleierten Dramaturgie ein sehenswerter Film ist, liegt vor allem an der Darstellung von Kurt Russel, der den Trainer Herb Brooks gibt. Die Siebzigerjahre-Haartopf-Frisur entstellt ihn zwar etwas, führt aber umso direkter zurück in jenes Jahrzehnt, als man mit den Haaren noch Charakter bewies. Brooks’ ungeheurem Schopf, so füllig wie unbewegt, eignet etwas Bastionartiges; Russel spielt ihn als einen jener Männer, die dadurch interessant werden, dass sie so viel zurückhalten. Seine Trainingsmethode beruht auf einer fast perversen Emotionsökonomie: Er will gehasst werden, damit sich die Spieler gegen ihn verbrüdern, er spart an Zuwendung, um sie in Motivationswut zu versetzen. Er ist eine Trainerfigur, wie sie immer wieder idealisiert wird, ein patriarchaler Dirigent der Gefühle der anderen, der für seine eigenen keinen Ausdruck kennt.

Das eigentlich Interessante an diesem Übervater aber ist, dass sich in ihm ein Verlierer verbirgt: Herb Brooks nämlich war zwanzig Jahre vor den Ereignissen, unmittelbar vor den Olympischen Spielen 1960, aus der US-Auswahl genommen worden. In „Miracle“, sowohl dem wahren Wunder als auch seiner Verfilmung, steckt deshalb neben der Außenseiterlegende auch die typische Geschichte eines späten Triumphes: Was ihm als Spieler nicht gelang, holt er als Trainer nach. Kurt Russel zeigt uns Brooks als eine Figur, die selbst im Auskosten des Sieges die einstige Niederlage nie ganz vergessen kann.

Bei Sportereignissen manifestiert sich ein geschlechtstypischer Umgang mit Gefühlen

Die Belohnung der Figuren und damit auch der Zuschauer mit triumphalen Siegen macht Sportfilme zu crowd pleasern – sie haben es leicht, ein Publikum zu gewinnen. Damit erklärt sich aber auch das gewisse klebrige Element des Genres: Sportfilme sind meist recht plumpe Illustrationen von Allmachtsfantasien, voll gestopft mit nervigen Wiederholungen der „Du schaffst es!“- und „Du bist der Größte!“-Mantras. Am Bedürfnis nach solch billigen, weil fiktionalen Triumphen lässt sich der Zeitgeist ablesen. Was das reale „Wunder von Lake Placid“ auf dem Eis vollbrachte, erledigte in den Achtzigern unter anderem „Rocky“ auf der Leinwand. Dass die Sportwunder von einst heute im Kino nachgestellt werden, zeigt, so gesehen, auch die aktuelle Stimmungskrise, in der man sich mit Erfolgen, und seien es längst vergangene, belohnen will. Filme über das Verlieren waren zu allen Zeiten recht selten; die ausschließliche Konzentration auf die Sieger scheint sich heute aber selbst in der Sportberichterstattung immer weiter auszubreiten.

Der Verlierer kommt nach der Niederlage kaum mehr ins Bild. Man weiß oft nicht, ob dieser Aufmerksamkeitsentzug als Gnade oder als zusätzliche Demütigung empfunden wird. Wie man überhaupt über das Verlieren sehr wenig weiß – und aus dem Kino ebenso wenig erfährt.

Auch in „Miracle“ wird natürlich kaum ein Blick damit verschwendet, etwa auf die geschlagenen Sowjets zu sehen. Was schade ist, denn oft ist auf der Seite der Verlierer ja die weitaus interessantere Geschichte versteckt. Und wer könnte die besser erzählen als das Kino?

Aber vielleicht ist das auch nur die weibliche Sehnsucht nach dem Melodrama.