Ein gar nicht so unglücklicher Gefangener

Die Liebe und ihre vielfältigen Aberrationen und Variationen. Aber wieder auch Deutschland und die Schuldfrage: Mit „Der Augenblick der Liebe“ hat Martin Walser einen abgeklärten, schlau ausgeklügelten und sich gegen alle Altersweisheiten und Abgeklärtheiten sträubenden Roman geschrieben

Ist er denn immer zuerst ein Walser und erst dann ein Schriftsteller?

VON GERRIT BARTELS

Im Grunde hatte man es kaum für möglich gehalten, dass es neben der skandalumwitterten Medienfigur Martin Walser auch noch den Schriftsteller Martin Walser gibt. Walser veröffentlichte in den letzten Jahren zwar den Roman „Der Lebenslauf der Liebe“ und die Notizen- und Aphorismensammlung „Meßmers Reisen“, doch hatten beide im medialen Spannungsfeld von FAZ bis Bild und Blitz bis Bunte keine Chance gegen die großen Martin-Walser-Verwerfungen: die Paulskirchenrede von 1998, den „Tod eines Kritikers“ aus dem Jahr 2002 sowie die Suhrkamp-Krise und Walsers sich scheinbar ewig ziehender Verlagswechsel der jüngsten Zeit.

Immerhin deutete der schon Monate im Voraus bekannte Titel seines neuen Romans an, dass man sich mal wieder auf eine andere, eher unspektakuläre, vielleicht rein literarische Walser-Thematik einzulassen habe: „Der Augenblick der Liebe“. Dieser Roman ist nun ein hübsch ausgeklügelter, fein zu lesender und alles andere als langweiliger Roman geworden, ein schlanker, im Gegensatz zu manchem anderen Walser-Roman ausnehmend ungeschwätziger und auf den Punkt gebrachter. Ein genauso altersweiser und abgeklärter wie sich gegen alle Altersweisheiten und Abgeklärtheiten sträubender Roman über die Liebe und ihre vielfältigen Aberrationen und Variationen.

Dennoch haben die vergangenen Jahre und gerade die Walser-Deutschland-Debatte in diesem Buch ihre Spuren hinterlassen. Walser hat es sich nicht versagt, in den Roman einen doppelten Boden einzuziehen, und sich wieder einmal ganz munter in die alten Grabenkämpfe begeben. Mehr oder weniger unverschlüsselt und mit der Figur eines zu seiner Zeit verfemten und angefeindeten Philosophen als Medium und literarischem Schutzschild belebt er aufs Neue seine Positionen in der Frage nach der deutschen Schuld und wie man über ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkrieges damit umgehen kann. Oder eben auch nicht.

Zunächst erzählt er eher unverfänglich, wie sich eine aus Alters- und Standortgründen nicht ganz einfache Liebesgeschichte anbahnt: zwischen seinem alten, Walser-Lesern aus den Romanen „Das Schwanenhaus“ und „Jagd“ bekannten Helden Gottlieb Zürn und der fast vierzig Jahre jüngeren, in Amerika lebenden und arbeitenden Doktorandin Beate Gutbrod. Sie schreibt ihre Arbeit über den 1709 geborenen und 1751 verstorbenen französischen Arzt und Philosophen Julien Offray de La Mettrie, über dessen ungenügende Rezeption in Deutschland und besucht deshalb Zürn, der als einer der wenigen Deutschen vor Jahren zwei wesentliche Aufsätze über La Mettrie verfasst hat. Beide fühlen sich während des kurzen Besuchs voneinander angezogen, und nachdem sie Zürns Haus am Bodensee wieder verlassen hat und in die USA zurückkehrt ist, vertiefen sie ihren Flirt per Post und Telefon. Nur rätseln beide unentwegt, was ihre Liebe nun genau ausmacht: Er fragt immer nach dem „Warum?“, wie kann sie einen alten, mittelmäßigen Mann wie ihn anziehend finden?, und sie weiß zumindest, dass sie unter seinen Blicken erstmals „in ihren Körpern hineingewachsen“ sei.

Idealer Verbindungsmann aber ist La Mettrie und dessen Philosophie. La Mettrie, ein radikaler Materialist und Atheist, vertrat eine hedonistische Ethik und galt als Genussmensch, für den die Lust und das Glück das Allererstrebenswerteste waren. Was ihn seinen Zeitgenossen nicht ganz geheuer machte: 1747 floh er sein Heimatland Frankreich in Richtung Holland, das er wegen der Veröffentlichung seiner Schrift „L’homme machine“ ebenfalls verlassen musste, um dann in Preußen Unterschlupf am Hofe Friedrichs II. zu finden. Dort allerdings sah man in ihm vor allem einen Hofnarren und Possenreißer, auch dort wurde er von Konkurrenten wie Voltaire und Lessing aufs heftigste angefeindet und beschimpft.

Natur, sonst nichts. Das Leben. Alles eins. Erst die Erfahrung, dann, wenn überhaupt, die Theorie – diese La-Mettrie-Vorgaben reizen den altersdepressiven Zürn genauso wie die mit Leib und Seele hadernde Beate Gutbrod. Zumal ihnen ein La-Mettrie-Kongress in Kalifornien die Gelegenheit bietet, sich in der Praxis zu üben und endlich körperlich zu vereinigen. Also fordert Beate, die den Kongress organisiert, Gottlieb auf, einen Vortrag über La Mettrie halten – einen Vortrag aber, mit dem Walser, selbst wenn er das in Interviews schon reflexartig abgestritten hat, von der Spur der Liebe abkommt und die Ausfahrt nach Deutschland nimmt, zu den großen Fragen der Schuld: Zürn beschreibt La Mettrie als jemanden, der „nur danach strebe, die menschliche Gattung von Schuldgefühlen zu befreien“, als jemanden, „der nichts tut oder tun will, was ihm Schuldgefühle verursacht, obwohl er erkennt, dass Schuldgefühle nur ein Produkt der Erziehung sind“, und er führt sein durch La Mettrie geschärftes Thema aus: „Die Erziehung als eine Ausbildung zum Gefangenen“.

Es folgen Sätze, die allesamt problemlos und schön den Charakter Gottlieb Zürns beschreiben, sich aber genauso problemlos und schön auf Walsers Einlassungen zu Deutschland anwenden lassen: „Was auch immer du an Fluchten geplant und ausgeführt hast, du bist ausgebrochen als der Gefangene, und wo du hinkamst, warst du der Gefangene auf der Flucht.“ Oder: „Du kannst den Mund nicht aufmachen gegen das Gute, ohne dir schlecht vorzukommen.“ Oder: „Jeder Versuch, dich frei zu fühlen oder gar zu benehmen, mündete bis jetzt im Schuldgefühl.“ So kommt es, wie es kommen muss: Der Vortrag wird ein Fiasko. Zürn, dem in einer psychosomatischen Vorwegnahme des Folgenden die Stimme versagt, muss sich mit dem Vorwurf auseinander setzen, dass hier ein deutscher Intellektueller an eine amerikanische Universität komme und versuche „unter dem Vorwand, er spreche über La Mettrie, den Deutschen einen Freispruch zu erschwindeln“. Eher widerwillig und nicht wirklich einsichtig gesteht er ein, „er als Deutscher, vor allem im Ausland, hat immer daran zu denken, dass er zuerst ein Deutscher ist und erst dann, falls sein Ein-Deutscher-Sein das noch zulässt, erst dann ein Mensch“.

Schlaufuchs, der er ist, könnte sich Martin Walser nun genau wie Zürn in Kalifornien darauf berufen, diese Lesart seines Romans keineswegs beabsichtigt zu haben – muss er denn als Walser immer dran denken, dass er zuerst ein Walser ist und erst dann ein Schriftsteller, könnte man verständnisvoll kalauernd fragen. Walser weiß sein literarisches Spiel zwischen Selbstentblößung und dem Verstecken hinter seinen Figuren elegant aufzuziehen, allerdings immer nach der Devise: Hier schreibe ich und kann nicht anders. Er stellt sich damit selbst so manches Bein, denn diese versteckten Einladungen zum biografischen Lesen verstellen zuweilen den Blick auf Walsers gekonnte Übertragung der Schuld-und-Sühne-Thematik auf die Liebesbeziehungen seiner Figuren. La Mettries Glücks- und Genussphilosophie ist natürlich ein gefundenes Fressen für Zürn und seine Träume von Freiheit und ewigen zweiten Frühlingen; und La Mettrie kann anscheinend auch der Liebling so mancher junger Frau sein – das zweite Kapitel, erzählt aus der Perspektive Beates, ist gewissermaßen angewandter La Mettrie, der dabei noch ausgiebig gegen Freud in Stellung gebracht wird.

Und wie souverän, nüchtern und manchmal rabiat weiß Walser auch sonst die Zürn’sche Liebes- und Lebensproblematik aufzuzäumen! Hier die Beziehung zwischen dem „Durchschnittsmenschen“ und „Immerschonidioten“ Zürn, der allerdings mit beneidenswert viel Selbsterkenntnis und Reflexionsvermögen ausgestattet ist, und seiner Ehefrau Anna; ihr beider oft wortloses, jahrelang eingeübtes Eingespieltsein; ihr Aufeinanderangewiesensein; ihre Augenblicke der Liebe in der Ehehölle. Und dort die Beziehung zwischen dem immer wieder entflammbaren „Terrassenmenschen“ Zürn und Beate Gutbrod, deren spätes körperliches und durchaus befriedigendes Zusammenkommen gleichzeitig der Beginn ihres „Auseinanderkommens“ ist, wie das dritte Kapitel schon in der Überschrift raunt.

Das Bedürfnis Zürns, nach jeweils vollzogenem Geschlechtsakt und schön der Reihe nach über seine vier Töchter und deren unbefriedigende Lebenssituationen zu sprechen, tut da sein Übriges. Der Zürn-Kenner bekommt so nach Art der Fortsetzungsromane seinen Wissensdrang befriedigt und weiß natürlich genauso wie die Zürn-Neulinge: Zürn muss sofort wieder weg, nach Hause, zu Anna.

Aber kaum hat Walser den Kitsch gestreift, kaum haben sich Anna und Gottlieb auf einem Holzstapel im Wald vergnügt und wiedervereint, bekommt er die Kurve, zieht er die nächste Kehre. Erst lässt er Zürn sich darüber erregen, dass ihm sein Friseur seit 25 Jahren mit immer denselben Worten ein Handtuch reicht: „Darf ich Ihnen das anreichen?“; dann ihn zu der Erkenntnis gelangen, dass er sein Altsein mit niemanden teilen kann; schließlich sich über eine Diskussion zwischen seiner Frau und einer Bekannten wundern, in der es um „Altersgeilheit“ geht, um ihn am Ende erneut zurück auf Start zu bringen: zurück zu Beate Gutbrod, die inzwischen aber verheiratet ist. Was Zürn nicht umwirft. Seinen Stein weiß er weiter zu rollen, auch in Richtung seiner Ehefrau, der er am Ende gemeinerweise das „Sie“ anbietet und zu einem Beate-Gottlieb-Dialog verführt: kein bisschen weise, unglücklich sehnend, unermüdlich sich im Laufrad der Ehe abstrampelnd, aber irgendwie auch ganz glücklich gefangen.

Martin Walser: „Der Augenblick der Liebe“. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004, 254 Seiten, 19,90 €