Noras Eroberungen

Ein zweiter Ausflug zum Theaterfestival in Avignon: Thomas Ostermeier präsentiert gleich vier seiner erfolgreichen Schaubühnen-Produktionen und wird als fotogen-brillanter Geistesmensch gefeiert

VON JÜRGEN BERGER

Es ist schon fast Mitternacht, als Anne Tismer oben auf der Bühne des Stadttheaters von Avignon steht und etwas scheu wirkt angesichts der Ovationen, die das Festivalpublikum ihr angedeihen lässt. Sie hat in diesem Moment ein Problem, um das sie wohl jede Schauspielerin der Welt beneiden würde. Immerhin sollte sie so schnell wie möglich durch die halbe Stadt zum nächsten Spielort gelangen, um dort nach Mitternacht noch einmal auf der Bühne zu stehen. Gerade war sie noch Ibsens „Nora“, hat eine sich emanzipierende Frau der neoliberalen Bourgeoisie gespielt und bis zur Selbstverausgabung gezeigt, wie dünn das Nervenkostüm der neuen, neureichen Mitte ist. Da geht es schon weiter in die kleinen Kapelle des Sankt-Joseph-Gymnasiums. Dort ist sie bis fast zwei Uhr nachts Mademoiselle Rasch in Kroetz’ „Wunschkonzert“ und sorgt mit ihrer Etüde über eine einsam-verhärmte Frau einmal mehr dafür, dass das Publikum ihr zu Füßen liegt.

Sicher, jedes Festival braucht Stars, und es liegt schon vier Jahre zurück, dass Isabelle Huppert im Papstpalast zeigte, wie das mit der Medea gewesen sein könnte. Das Publikum in Avignon ist ein sehr sachkundiges und weiß, dass es mit „Nora“ Schauspiel der Sonderklasse genießen durfte. Dass Ostermeier im Süden gleich vier seiner Schaubühnen-Produktionen präsentieren, auch noch den „Woyzeck“ und „Disco Pigs“ im Gepäck haben konnte, hängt mit einer Neuausrichtung des größten Theaterfestivals der Welt zusammen. Die neuen Leiter, Hortense Archambault (34) und Vincent Baudriller (36), haben einen assoziierten Künstler eingeführt, der mit ihnen zusammen das Programm erstellt. Zum Einstieg fiel die Wahl auf den Schaubühnen-Chef aus Berlin, der flugs sich selbst und die bekannten Größen der deutschen Szene von Castorf über Pollesch bis Marthaler nach Südfrankreich schleuste. Als das bekannt wurde, wirkte es aus deutscher Sicht wie ein aufgewärmtes Menü aus der Theaterkantine. Für die französische Szene allerdings ist solch eine Ballung eines bestimmten Typus deutschen Theaters ein Kontrastprogramm zur immer noch vorherrschenden Tendenz auf französischen Bühnen, Theater lediglich als deklamatorisches Exerzitium zu begreifen.

Also konnte es im Süden der Grande Nation geschehen, dass die Theaterballung aus dem Hause Ostermeier ausverkauft war – vor der „Nora“ stand man Schlange, um noch eine Karte zu ergattern. Und es konnte geschehen, dass Ostermeier sich auch nach der fünften Vorstellung auf die Bühne bitten ließ und den extra ihm zugedachten Applaus genoss. Dass die Franzosen dem Schlacks aus Soltau so zugeneigt sind, wie sie zuletzt wohl nur Heiner Müller aus der Ferne verehrten, hat wohl auch mit Klischees zu tun: Während der Deutsche im Franzosen nach der feinen Lebensart stochert, meint der Franzose im Deutschen auf jeden Fall den Geistesmenschen zu finden. Es hat aber auch damit zu tun, dass Ostermeier sich in allen verfügbaren Medien überaus photogen präsentierte und tatsächlich als artiste associé verstand. Der Schaubühnen-Chef war auch in der Vorbereitungsphase stark involviert und initiierte nicht zuletzt, dass Johan Simons und Luk Perceval zum ersten Mal nach Frankreich eingeladen wurden.

Dann kam die Festivaleröffnung im Papstpalast, und die Schaubühne genoss das Privileg, dass mit dem „Woyzeck“ zum ersten Mal die deutsche Sprache im Traditionsort des französischen Theaters zu hören war. Die Reaktionen auf den gedemütigten Kleinbürger aus deutschen Landen, den Ostermeier in den sozialen Sperrbezirk der Banlieue verlagert, waren allerdings gespalten. Die deutsche Sprache im Papstpalast ist auch fünfzig Jahre nach Kriegsende für manchen Franzosen ein Sakrileg. Hinzu kommt, dass die Festivalleitung dem Publikum dieses Jahr lange eine Großveranstaltung in französischer Sprache verweigerte und erst Mitte des Festivals mit einer bemerkenswerten „Peer Gynt“-Inszenierung Patrick Pineaus im Papstpalast aufwartete.

Also konnte man in Avignon zuerst einmal beobachten, dass Ostermeiers die Emotionalität von Figuren ausstülpendes Theater wohl eine Aufwärmphase voraussetzt. Einem dem Sprachfetischismus verpflichteten Publikum mag die körperliche Expressivität eines Bruno Cathomas wohl too much sein.

Bleibt abzuwarten, ob sich das Konzept mit assoziertem Künstler auch künftig bewährt. Ostermeiers Nachfolger ist Jan Fabre, und man darf gespannt sein, was der flämische Crossover-Künstler aus dem Zwischenreich von Regie, Choreografie und Performance sich einfallen lassen wird. Dieses Jahr stellte er eine kleine Geschichte vor: Sein „L’ange de la Mort“ war aber lediglich ein müder „Todesengel“, der auf vier Screens einen Fabre-Text zum Besten gab.

Dann wäre da noch die Frage, in welche Richtung sich die Auseinandersetzung um die unsoziale Reform der Rentenversicherung freier französischer Kulturschaffender entwickelt. Letztes Jahr musste nicht nur das Festival in Avignon abgesagt werden. Inzwischen soll die das französische Theatersystem in der Substanz gefährdende Reform reformiert werden. Während des diesjährigen Festivals machten die französischen Intermittents vor jeder Premiere mit beeindruckenden „Begleitprogrammen“ auf ihre Situation aufmerksam. Beim „Peer Gynt“ etwa kam eine kleine Armee schwarz gekleideter Menschen auf die Bühne im Papstpalast. Auch da applaudierte das Publikum. Dieser Beifall war solidarisch gemeint.