Das Dorf der Liebesmöglichkeiten

taz-Serie „Gelebte Utopien“ (Teil 3): Das „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“, genannt Zegg GmbH, in Belzig versammelt noch immer die Romantiker der freien Liebe und muss sich noch immer den Vorwurf „Psychosekte“ gefallen lassen

„Freie Liebe ist das Ziel und wir pirschen uns ran“, sagt François und lächelt

VON FLORIAN HÖHNE

Eine junge Frau sitzt am Wegesrand und zupft kleine grüne Pflänzchen aus dem Kies. Ganz ruhig, ganz ordentlich, jedes einzeln, ganz behutsam. Fast so, als gelte es, den Gewächsen nicht wehzutun. „Das ist entspannend“, sagt sie lächelnd, „das hat etwas Meditatives.“

Wo heute Unkraut gejätet wird, war im Nationalsozialismus ein Ferien- und Sportlager. Zu DDR-Zeiten residierte hier die Gesellschaft für Sport und Technik, die für die vormilitärische Erziehung der Jugend zuständig war. Heute sind die einst grau-braunen Bauten in Belzig bunt gestrichen und mit Mosaiken verziert. Sie gehören zu dem 15 Hektar großen Gelände – dem „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“, kurz Zegg GmbH genannt.

1991 kaufte die Gemeinschaft Land und Gebäude von der Treuhand, für 2,1 Millionen Mark. Mittlerweile wohnen 80 Menschen, 2 Hunde, 5 Katzen und 2 Pferde dort. Ihr großes Ziel beschreibt die professionelle Internetseite mit einem Wortblasen-Ungetüm: ein „internationales Tagungs- und Forschungszentrum aufbauen, das Modellentwürfe für ein sozial und ökologisch nachhaltiges Leben erarbeitet“. In der Anfangszeit hieß das im Klartext: Ausbruch aus der traditionellen Zweierbeziehung, freie Liebe.

Als die taz vor gut zehn Jahren über das Zegg berichtete, stand es von allen Seiten in der Kritik: Aus der linken Szene wurden der Gemeinschaft patriarchalische, hierarchische und sexistische Strukturen vorgeworfen – unter anderem wegen der starken Führungsrolle des Initators Dieter Duhm. Pfarrer Thomas Gandow, Sektenbeauftragter der evangelischen Kirche, ordnet das Zegg als „Psycho-Organisation“ ein. In der Boulevardpresse macht es Schlagzeilen als Paradies der freien Liebe und Ort ungehemmten Rumfickens.

Diese Artikel hätten viele ungebetene Besucher angelockt, erzählt Ramona Stucki, die seit den Anfängen dabei ist. „Die haben sich falsche Vorstellung vom Zegg gemacht, wenn sie dachten, hier gäbe es schnellen Sex“, sagt sie. Dass es bei freier Liebe eben nicht um schnellen, bindungslosen Sex geht, hatten die Zegg-Leute schon vor zehn Jahren hastig beteuert.

Heute redet man im Zegg etwas entspannter über das Thema – scheint aber ständig auf der Hut vor böswilligen Unterstellungen zu sein. Man sitzt auf dem so genannten Dorfplatz bei Kaffee und Kuchen. „Freie Liebe ist das Ziel und wir pirschen uns ran“, erklärt der braun gebrannte François: Am Anfang stehe der Ausbruch aus der Normalität. „Viele halten das schon für freie Liebe, dabei ist es nur die erste Geburtsphase“, sagt er und lächelt. „Es geht darum, experimentierend herauszufinden, was beiden gut tut. Was wird aus der Liebe, wenn man sie nicht gleich definiert und einsperrt?“

Barbara, die erst vor kurzem ins Zegg zog, erzählt denn auch, was sie an der freien Liebe so befreiend findet: „Ich muss eine Beziehung nicht beenden, wenn ich jemand Neues kennen lerne. Ich bleibe offen.“ Schwer vorstellbar, dass das ohne Eifersucht klappen soll. „Das Thema Eifersucht ist immer dabei, wenn es um freie Liebe geht“, gesteht Ramona ein. „Wir versuchen hier offen über die anderen Partner zu reden und es nicht zu verheimlichen.“ Dafür gebe es zum Beispiel das Forum. „In diesen regelmäßigen Treffen kann über alles geredet werden, was einen bewegt. Auf Gesprächsebene und auch mit künstlerischen Mitteln.“

Praktisch sieht das Ergebnis dann weniger spektakulär aus: „Es gibt viele Paarbeziehungen, aber die sind weder ausschließlich noch monogam“, so Stucki.

Für François war freie Liebe einer der Beweggründe ins Zegg zu ziehen. Nach siebeneinhalb Jahren Erfahrung dort betont er, wie wichtig es sei, dass die Partner nicht die einzigen Anker im Dasein sind. Deshalb spricht er weiter über spirituelle Experimentierbereitschaft.

Diese Bereitschaft zeigt sich ganz bilderbuchstäblich auf dem geschichtsträchtigen Zegg-Gelände: Man sei unter anderem auf energetischer Ebene mit der Vergangenheit der Gebäude umgegangen, erzählt Stucki. „Mit verschiedenen Zeremonien haben wir versucht, die Geister alter Tage aus dem Gemäuer zu treiben.“ Im Zentrum des Geländes befindet sich ein riesiger, runder Steinplatz, in der Mitte plätschert ein Springbrunnen. Dieser Campus dient auch als Ort der Meditation, als „kosmische Antenne“. Außerdem gibt es eine Aschram-Gruppe, die sich hier zum Morgenritual trifft. Und Baummeditationen. Und Schwitzhütten. So kommen Versatzstücke aus allen Weltreligionen, -kulturen und -traditionen zusammen: indianisch-schamanisch, steinersche Anthroposophie, indisch-hinduistisch, Zen-Meditation und Sufismus. Der Zegg-Buchladen am Dorfplatz spiegelt diese Patchworkreligiosität: Liederhefte aus der der katholischen Jugendbegegnungsstätte Taizé liegen neben buddhistischer Meditationsmusik. Halleluja, Oum.

Eine andere Teilnehmerin der Dorfplatz-Kaffeerunde, Katja, beschreibt den spirituellen Konsens so: „Die Erde ist ein lebendiger Organismus, der Mensch ein Teil, der mit der Welt und der universellen Kraft in verschiedensten Formen in Kontakt steht.“ Zu dieser Kontaktaufnahme bedienen sie sich aus dem Reichtum der Kulturen – nach ganz pragmatischen Gesichtspunkten: „Wir nehmen, was wir brauchen für den Gemeinschaftsaufbau“, sagt François.

Immer wieder geht es um „organische Gemeinschaften“ und „Netzwerke“. Auch eine Zweierliebe müsse „organisch eingebettet sein in das Ganze“, meint Stucki. „Wenn das Netzwerk fehlt, gibt es viele Scheidungen. Deshalb ist so ein offenes und ehrliches Netzwerk für dauerhafte und freie Liebe besonders wichtig“, sagt sie, „freie Liebe heißt, Liebesmöglichkeiten ausprobieren in einem Freundes-Netzwerk.“ François spricht von einem Biotop, in dem sich alle ergänzen.

Hinter Gemeinschaftsideal und Vergleichen mit der Pflanzen- und Tierwelt steht Dieter Duhm, auf den das Zegg zurückgeht. In den späten 60er-Jahren engagierte sich Duhm in der marxistischen Linken, distanzierte sich aber in den 70ern, um nach „einer menschlichen Alternative“ zu suchen. Der „antiimperialistische Kampf“ der Linken sei an „menschlichen Konflikten“ gescheitert, schreibt er. „Ohne den Aufbau einer tragfähigen menschlichen Basis erscheint mir die Fortsetzung der politischen Arbeit nicht mehr sinnvoll.“ Um diese menschliche Basis zu erforschen, wurde er zum Guru und startete mit 40 Teilnehmern im Schwarzwald ein dreijähriges soziales Experiment, die „Bauhütte“. Sie entwickelten Konzepte der freien Liebe und der „spirituellen Ökologie“. Aus den Teilnehmern der Bauhütte ging 1991 dann das Zegg in Belzig hervor.

Duhm ist dort allerdings nur besuchsweise, etwa zu den alljährlichen Sommercamps und Pfingsttreffen. Er selbst lebt im warmen Portugal in dem von ihm gegründeten „planetarischen Heilungsbiotop Tamera“.

Vor zehn Jahren zitierte eine Hauswand im Zegg den Gemeinschafts-Guru Duhm: „Die ganze Biosphäre beginnt zu jubeln, wenn Menschen endlich in einen Stand der Liebe und Treue eintreten, die nicht mehr gebunden ist an Bedingungen.“ Diese Wandbemalung sucht man heute vergeblich. Zu Duhm bekennen sich die Zeggler dennoch: „Für viele – nicht alle – ist er Inspiration und Orientierung, für viele eine wichtige Figur“, sagt François und Katja fügt hinzu: „Es ist ein Fehler vieler Projekte, nicht zu ihrem Lehrer zu stehen. Wir tun das.“

Gewandelt hat sich das Verhältnis zum Lehrer Duhm scheinbar trotzdem: „Anfangs waren wir kollektivistischer ausgerichtet und es gab eine klare Leitung: Dieter Duhm“, berichtet Stucki. „Heute liegt die Verantwortung auf mehreren Schultern. Es gibt neue kommunitäre Entscheidungsformen.“ Grundlegende Beschlüsse fällt die Bewohnerversammlung – möglichst im Konsens. Über die Finanzen entscheiden ein Finanzgremium und der so genannte 13er-Rat. Wer mehr als 4.000 Euro Darlehen in die Zegg GmbH einlegt, hat Einspruchsrecht gegen Finanz-Entscheidungen.

Die Zegg GmbH ist das Organ gemeinschaftlicher Ökonomie: Sie ist Eigentümerin des Geländes und Trägerin des Tagungsbetriebs – der Haupteinnahmequelle. Wer auf dem Gelände wohnt, zahlt 340 Euro Miete an die GmbH, die unter den Zegglern knapp 30 Mitarbeitende hat. Der Rest der 80 arbeitet entweder außerhalb – manche sogar im knapp 80 Kilometer entfernten Berlin – oder mit selbständigen Unternehmen auf dem Gelände – zum Beispiel Ramona Stucki mit ihrem Buchladen. Neben der gemeinsamen Ökonomie haben die Zeggler Privateigentum. Sie leben in Wohngruppen von bis zu 10 Leuten: zu mehreren in der „Hobbitgasse“ in Campingwagen, andere zu zweit in Bungalows.

Die bunt bemalten Flachbauten stehen in einer Reihe und erinnern an eine Laubenpiepersiedlung – bloß ohne Zäune. Sieht man ab von spirituell befreiter Liebe, wirkt alles recht gutbürgerlich.

Zwei junge Männer fegen die mit Mosaiken verzierte und gewundene Betonrinne auf dem Dorfplatz. Der Besen raschelt, während Stucki erzählt, was sich in den letzten zehn Jahren verändert hat: „Am Anfang ging es stark um innere Themen: Wie schaffen wir es, gemeinschaftlich zu leben und Wahrheit und Offenheit in die persönlichen Beziehungen zu bringen?“ Über diese Anfangsfragen sei man hinaus, es gebe eine eingespielte stabile Gruppe. „Es geht immer noch um persönliche Themen, aber wir sind jetzt stärker politisch ausgerichtet“, so Stucki. Das Zegg ist Mitglied bei Attac und bei Global Ecovillage Network (GEN), macht mit bei Projekten gegen rechts und Friedensdemos und engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit.

François meint, die Anfangsbegeisterung sei ein bisschen auf der Strecke geblieben. „Wir sind älter geworden, viele haben selbst Kinder“, begründet er. „Wir sind harmloser, aber fundierter. Gesettleter eben.“ Gesettlet. Die jungen Männer, die eben noch die Rinne fegten, knien jetzt neben der Kaffeerunde im Kies. Der eine erklärt gerade dem anderem, wie man Unkraut zupft.