Stichwort Nazi

Wie ich den deutschen Sozialwissenschaftsbetrieb rettete und nebenbei erfuhr, dass Ausländer die Volksgemeinschaft beim Kiffen stören – Feldforschung in Oranienburg zwischen KZ-Gedenkstätte und Bowlingcenter

VON NATALIA HANTKE

Hugo kenne ich seit fünf Jahren. Wir haben zusammen Soziologie studiert. Kurz bevor ich mit meiner Diplomarbeit anfing, verlor ich ihn aus den Augen. Hugo wollte eine empirische Studie über die Rechtsradikalenszene in Oranienburg durchführen. Ich blieb meinem Face-to-Face-Thema – Russen und Deutsche – treu. Das letzte Mal hatte ich Hugo vor vier Monaten gesehen. Danach hatte ich nichts mehr von ihm gehört.

Neulich traf ich Hugo wieder auf der Straße: Er war nicht mehr er selbst! Die Punkfrisur war komplett abrasiert, er hatte mindestens ein Drittel seines Körpergewichts verloren, trug schwere Stiefel und eine Bomberjacke. So abgemagert, kahlköpfig und ungewöhnlich gekleidet, machte mir Hugo auf den ersten Blick richtig Angst. Ich überlegte kurz, ob er vielleicht die Seite gewechselt hatte oder krank geworden war – wer weiß, was einem im Rahmen einer teilnehmender Beobachtung alles zustoßen kann.

Hugo blickte unruhig um sich, tastete ständig an seinem neu angelegten Oberlippenbart und erzählte mir von den radikalen Mitläufern der Rechten in Oranienburg: Er verbrachte dort seine ganze Zeit, ging nur noch in Oranienburg aus und hatte sich aus Konspirationsgründen, wie er sagte, dieses komische Outfit zugelegt. Ich war begeistert. Vor mir stand der deutsche James Bond. Doppelagent 03301 – oder wie lautet noch mal die Oranienburger Vorwahlnummer?

Ich wollte ihn sofort auf seinem nächsten spannenden Oranienburg-Einsatz begleiten – empirische Untersuchung, fremde Stadt, endlich eine neue, dazu noch rechte Szene. Kurzum – pures Adrenalin! Hugo sagte, wir könnten dort bowlen gehen. Bowling in Oranienburg! „Ist das so was Ähnliches wie der Film über Schusswaffen von Michael Moore oder wie ein Kegelbahnausflug von Intellektuellen?“, fragte ich. Letzteres, beruhigte mich Hugo. Ich fragte ihn, wie ich mich anziehen solle. Er meinte: ganz unauffällig – erklärte mir aber nicht, was in O-Burg als unauffällig durchgehen konnte.

Ich machte meinen Kleiderschrank auf: nichts, aber auch gar nichts Unauffälliges konnte ich dort finden. Nur buntes Zeug. Ich entschied mich schließlich für meinen Sportanzug und verpasste mir obendrein eine brave BDM-Frisur mit straffem Scheitel und kleinem Pferdeschwanz.

Hugo äußerte sich nicht zu meinem Aussehen. Wir fuhren mit seinem Auto nach Oranienburg und holten zur Verstärkung Oliver im Antifa-Club ab, einen österreichischen Architekten, mit dem zusammen Hugo seine Studien machte. Dann parkten wir vorm Bowlingcenter. Der Laden war voll mit Menschen – aber mit was für welchen! Bomberjacken von Alpha Industries, Lonsdale, Consdaple, Sweatshirts mit Frakturschrift von Pit Bull und Doberman und natürlich Schuhe von New Balance.

Bowling spielte nur die Minderheit: Bürger in gebügelten Jeans und verwaschenen T-Shirts. Der Rest stand oder saß da und trank Bier. Wir stellten uns an die Bowlingtheke in der Hallenmitte: Hugo und Oliver redeten ganz schnell miteinander, blickten in alle Richtungen, ich saß wie eine blöde Kuh mit meinem Adidas-Anzug und Scheitel da und wartete auf das Adrenalin – stattdessen kam ein großes Bier, und es passierte nichts. Ich wusste aber auch nicht, was alles passieren könnte.

Ach ja! Wir wollten ja Bowling spielen – die Preise waren fantastisch! Irgendetwas zwischen drei und vier Euro. Die Ausleihe von Schuhen an Studenten kostete nur sechzig Cent! Ich fragte Hugo, warum Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger keine Ermäßigung bei der Schuhausleihe bekämen. Hugo bemerkte, dass wäre ja dann quasi eine Ermäßigung für die ganze Stadt. Wahrscheinlich hätten sich die Betreiber ausschließlich für Studenten entschieden, da hier so gut wie keine vorhanden sind. Und trotzdem spielten wir kein Bowling. Meine Begleiter wurden still und schauten Erkenntnis heischend hin und her. Ich bemerkte neugierige Blicke von einem für Hugos Diplomarbeit interessanten Tisch, an dem sich eine Gruppe junger Männer zwischen 18 und 25 Jahren langweilte. Einer von denen machte mir Zeichen. Ich fragte Hugo und Oliver, wie ich reagieren solle – ihnen machte leider niemand Zeichen.

„Sie laden dich zum Tisch ein? Dann solltest du dahin!“, sagte Oliver. „Bist du verrückt oder was? Meine Diplomarbeit heißt ‚Kulturell bedingte Divergenzen in deutsch-russischer Zusammenarbeit in der IT-Branche‘ und nicht ‚Chancen und Risiken der Kontaktaufnahme mit Rechtsextremisten oder Der Tod einer russischen Soziologin im Oranienburger Bowlingcenter‘.“ Die Einladungen der jungen Männern wurden mit der Zeit immer unmissverständlicher. Hugo äußerte die Überlegung: „Was könnte passieren, wenn du hingehst? Im schlimmsten Falle werden sie uns drei verprügeln. Wenn du aber nicht hingehst, werden sie uns drei auf jeden Fall verprügeln.“ Das leuchtete mir ein.

Ich brauche aber eine Legende, und außerdem kenne ich die Fragestellung deiner Arbeit nicht, was für ein Interview soll ich führen?“, fragte ich Hugo. Oliver sagte: „Gut, du gehst jetzt hin, sagst, du bist vierundzwanzig und kommst aus Dänemark.“ – „Mann, Oliver! Ich bin schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr vierundzwanzig, und ich spreche kein einziges Wort Dänisch!“ – „Macht nichts, das werden sie nicht merken. Du sagst, du bist eine Journalistin aus Dänemark, denn als Russin könnte es problematisch werden!“ – „Okay, ich gehe hin – als Dänin, kennt ihr denn wenigstens eine dänische Zeitung, für die ich schreiben soll?“ Hugo und Oliver schwiegen und grübelten über den Zeitungsnamen nach. Ich schaute währenddessen permanent auf die „Zielgruppe“ und lächelte dabei charmant. Einer der Jungs versuchte meinen Blick zu fangen, klopfte dabei auffordernd mit der Hand auf den freien Stuhl neben sich und auf den Tisch. Ich nickte und grinste angestrengt. „Bitte schnell einen Namen!“ „Kopenhagener Abendblatt“, improvisierte Hugo – so was müssen die Dänen doch haben!“

Ich ging los, versuchte wie eine Vierundzwanzigjährige auszusehen, glotzte blöd und nervös – dabei fiel mir ein: Die müssen uns ja nicht unbedingt in der Halle verprügeln, die können das bestimmt auch draußen neben dem Auto, wer sollte mir dann dabei helfen? Hugo wog so viel wie ein Streichholz, und Oliver hatte den typischen Körperbau eines Intellektuellen (krummer Rücken und Spaghettibeine) – ich war noch die Kräftigste von uns dreien.

Ich setzte mich an den Tisch – alle Jungs starrten mich an. „Bist du fremd hier?“, fragte der Einlader. „Ja, ich bin fremd hier in Oranienburg und in Deutschland auch!“, antwortete ich. Es herrschte Stille. „Ich komme aus Dänemark“, ergänzte ich mutig und achtete auf meinen russischen Akzent. „Und was machst du hier?“ – „Ich möchte einen Artikel über Oranienburg schreiben, über die Jugendkultur“, fügte ich freundlich hinzu. „Dann bist du bei uns ganz falsch“, mischte sich ein wirklich furchtbar gefährlich und schon älter Aussehender ein. Er lächelte nicht, schaute mich nur kritisch an. Ich spürte seine Aggressionen oder meinte jedenfalls, sie zu spüren. Ich hatte Schiss, aber lächelte weiter.

„Du bist also eine Journalistin?“, fragte mich der erste Junge. „Ja, das bin ich“, sagte ich. „Wie alt bist du denn?“ – „Ich, ich … ich bin siebenundzwanzig.“ „Echt, so alt schon?“, wunderte sich der nette Junge. Der andere schaute mich an und fragte: „Welches Jahr bist du geboren?“ Vor lauter Aufregung konnte ich nicht mehr im Kopf rechnen: zweitausendvier minus siebenundzwanzig – wie viel ist das denn, mein Gott, warum bin ich überhaupt nach Oranienburg gefahren, zweitausendvier minus siebenundzwanzig – nein, ich konnte es nicht, zu viel Adrenalin im Blut schlägt aufs Gehirn. „Du bist neunzehnsechsundsiebzig geboren, stimmt’s?“, drängte der Gefährliche. „1976 bist du geboren, oder?“ Ich versuchte abzulenken „Ich habe doch gesagt, dass ich siebenundzwanzig bin.“ „Na, dann bist du 1976 geboren, habe ich doch gesagt, 1976.“ „Ach ja“, meine Stimme blieb ruhig. „Nun, zu der Jugendkultur: Was kann man als Jugendlicher, und das seid ihr doch (ich schaute mir die ganze Runde aus zehn Männern an), in Oranienburg machen?“ – „Hier kann man nichts machen“, schnitt der Nette die Frage ab. „Wie – nichts?“

„Warum willst du über Oranienburg schreiben?“ – „Das ist unser Projekt, wir wollen nicht über Berlin schreiben, darüber schreibt jeder. Wir wollen über die kleinen Städte neben Berlin, sozusagen über die Ex-DDR-Städte schreiben. Über Oranienburg im Wandel der Zeiten“, versuchte ich meine Zuhörer zu überzeugen, erinnerte mich dabei aber an die Ethik eines Soziologen, der die Befragten nie über die Zwecke seiner Studien belügen darf. Mann, aber wenn ich jetzt die Wahrheit erzählte? Deswegen schaltete ich mein soziologisches Gewissen lieber ab und stellte mir vor, ich sei eine russische Doppelagentin – Putins Kusine! Ein anderer Junge wandte sich mir zu – er wollte von mir dänische Münzen haben. Dänische Münzen, dachte ich hibbelig – ist Dänemark in der EU, haben sie ihre Münzen abgeschafft, haben sie jetzt auch nur noch Euro, oder was meint er damit? – Dänische Euromünzen? Ich hatte natürlich keine.

Woher kennt ihr euch eigentlich?“, stellte ich meine nächste Frage. „Geht ihr zusammen zur Schule?“ Die Jungs lachten. „Wir spielen zusammen Fußball, zur Schule gehen wir schon lange nicht mehr!“ „Wo spielt ihr denn?“ – „In Sachsenhausen.“ Ich zeigte Begeisterung. „Dürfen wir zu eurem Spiel kommen?“ – „Du ja, aber die beiden da nicht. Was sind das überhaupt für welche?“, fragt der Gefährliche. „Das ist mein Fotograf und der Abtipper, er tippt meine Interviews ab“, erklärte ich. Interessant, was Hugo dazu gesagt hätte, wenn er erfahren hätte, wie ich ihn vorstellte.

„Und was arbeitet ihr?“, fragte ich. „Arbeitslos, arbeitslos, arbeitslos, arbeitslos …“ Der Nette zeigte mit den Finger auf jeden der am Tisch Sitzenden. „Wir sind alle arbeitslos.“ – „Gibt es keine Arbeit für euch?“ – „Hier gibt es für keinen Arbeit!“ – „Und was macht man in der Freizeit so?“ Das Gespräch schien sich langsam zu stabilisieren. Also glaubten sie mir – das war schon mal was. Man würde uns heute wahrscheinlich nicht mehr verprügeln! „Am Dienstag kommen wir hierher – alles halber Preis!“ – „Aha, und was noch?“ – „Am Samstag fahren wir hier in der Nähe in eine Disko – dann gibt es noch ein Schwimmbad, da kann man auch bowlen.“– „Aha.“ – „Das wär’s.“ – „Wie? Fahrt ihr nie nach Berlin – ist doch nicht weit?“ – „Doch, zweimal im Jahr oder so.“ – „Und was macht ihr dann da in Berlin?“ – „Wir gehen in den Tresor, tanzen, kennst du den Schuppen?“ – „Natürlich kenne ich den Tresor.“

Mein Interviewpartner wurde langsam warm. Es war der Nette. Der Böse schaute und hörte nur zu. „Und suchst du eine Arbeit?“ – „Ja, aber sie haben keine. Ich habe jetzt acht Monate im Reifenwerk gearbeitet, dann haben sie mich rausgeschmissen.“ – „Und jetzt?“ – „Na ja, sie sagen im Arbeitsamt, sie geben mir bald einen Job, aber ich glaube niemandem mehr. Sie lügen. Sie haben keine Arbeit für mich.“

Ich überlegte, wie ich zu den Fragen über die rechte Szene übergehen könnte. Nach ihrem Aussehen deutete alles darauf hin, dass sie dazu gehörten. Mir fiel aber nichts ein. „Sag mal, wenn du jetzt einen Zauberstab und drei freie Wünsche hättest, was würdest du dir dann wünschen?“, fragte ich. „Eine treue Freundin!“, antwortete der Nette, ohne zu zögern. „Und was noch?“ – „Nichts weiter, eine treue Freundin, das reicht mir.“ Dann, nach einer kurzen Pause: „Na ja, vielleicht noch einen Job.“

„Was wäre dein Traumjob?“ – „Ich würde gerne als Aushilfe auf dem Bau arbeiten.“ – „Und warum suchst du dir keinen Job in Berlin?“ – „Ich kenne dort keinen. Hier habe ich meine Kumpels und dort niemanden, aber vielleicht fahre ich nach Holland. Die suchen da immer Leute.“ – „Wann willst du fahren?“ – „Das weiß ich nicht. Ich kenne keinen. Wenn ich dort einen kennen würde, würde ich sofort fahren.“ – „Bleibst du dein ganzes Leben in Oranienburg?“ – „Nee, ich fahr nach Westdeutschland. Irgendwann.“ Ich schloss unser Gespräch mit der Fußballverabredung ab und ging zurück zu meinen Begleitern.

Wir verließen die Bowlingtheke, die beiden spielten noch eine Runde Billard in der anderen Ecke der Halle. Ich spielte nicht, ich hatte genug gespielt für diesen Abend. Ich saß nur da und schaute ihnen zu und dachte: „Die armen rechtsradikalen Würstchen, die den Arsch nicht hochkriegen, um etwas in ihrem Leben zu verändern.“ Die Würstchen schauten mich von überall her an und suchten nach einem Blickkontakt, wahrscheinlich hatte es sich bereits rumgesprochen, dass ich für das Kopenhagener Abendblatt schrieb, viele wünschten sich möglicherweise ein Interview mit mir – was wäre, wenn sie die Wahrheit gewusst hätten. Als wir nach Berlin zurückfuhren, sagte ich zu Hugo: „Nur Frauen können Deutschland gegen den Rechtsextremismus helfen – schließlich wünschen sich diese Jungs von einem Zauberstab nur ein treues Weib.“

Als wir unversehrt wieder in Berlin ankamen, war ich erleichtert und verbuchte das ganze als „Natalia Hantke mal wieder im Wunderland“. Ein paar Tage später schrieb ich einen Lesebühnentext darüber, während Hugo und Oliver ihre Berichte und Beobachtungen zu Protokoll gaben. Mit einem Wort: Jeder von uns dreien hatte von diesem Abend was gehabt.

Zwei Wochen später rief mich Hugo an und fragte, ob ich mit ihm noch einmal nach Oranienburg fahren könnte, um mit einem von diesen jungen Neonazis ein richtiges Interview zu führen. Er erzählte mir, dass sein Professor die vertrauliche Kontaktaufnahme als extrem positiv bewertet habe und dass ich aus lauter Liebe zur Wissenschaft noch einmal das Risiko eingehen solle.

Meine Antwort lautete: Zwar möge es so etwas wie eine Liebe zur Wissenschaft tatsächlich geben, aber ich sei mir sicher, dass sie in meinem Fall keine glückliche sei. Ich wollte mein Schicksal nicht noch einmal herausfordern. Ich hatte zu viel Angst. Eine Woche darauf rief mich Hugos Professor selbst an. Seine Argumente waren plausibel. Er beharrte auf der Fortschreibung der Studie, die bis jetzt nur Beobachtungsberichte, aber leider keine direkten Gespräche mit der Zielgruppe enthalte. Ich sei die Einzige, suggerierte mir der Professor, die die Rechtsextremismus-Forschung in Deutschland voranbringen könne. Das verschlug mir die Sprache. „Bis zum bitteren Ende bringen könne“, wollte ich sagen, konnte aber kein Wort herausbringen. „Wissen Sie, das ist eine einmalige Gelegenheit, die wir ausnutzen sollten. Die Jugendlichen haben Vertrauen zu Ihnen gefasst, Sie stehen außer Verdacht und können dementsprechend ein unvoreingenommenes Interview führen, das können wir so gar nicht.“

Da ich bei diesem Professor ebenfalls eine Abschlussprüfung ablegen musste, hatte ich fast keine Wahl. Ich kontaktierte also den nettesten Jungen aus der Arbeitslosenclique, Mario, entschuldigte mich bei ihm, dass ich damals zum Fußballtermin nicht erschienen war, und verabredete mich mit ihm aus Sicherheitsgründen in einem Café in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Hugo und Oliver fuhren mich mit dem Auto zum KZ-Gelände. Das Café war erst vor kurzem eröffnet worden. Auf Schleichwegen fuhren wir am „Grünen Ungeheuer“ – dem Offizierskasino der SS – vorbei und an der Villa von Herrn Eike, dem Inspektor der Konzentrationslager und Führer der SS-Totenkopfverbände.

Mir war kotzübel – entweder von der Autofahrt oder von dieser Umgebung. Aber ich riss mich zusammen. Das Café im KZ war ein guter Treffpunkt – mit genug Polizisten und Gittern drum herum. Hugo und Oliver begleiteten mich hinein, um zu prüfen, ob Mario allein gekommen war. Er war es. Oliver – der Legende nach unserer österreichischer Fotograf – knipste mich zusammen mit Mario im Café des Konzentrationslagers. Ich sah vor meinem geistigen Auge bereits die Schlagzeile der morgigen Ausgabe der taz: „Junge engagierte russische Soziologin geht als Dänin freiwillig in den Tod – für die deutsche Wissenschaft! Das letzte KZ-Foto unserer Heldin.“ Der Neonazi und ich blieben allein.

Sag mal, Mario“, fragte ich mit der typischen, quasi hochinteressierten Stimme einer Journalistin, „wie verbringst du eigentlich deine Wochenenden so?“ Mario runzelte die Stirn, rieb an seiner Nase und sagte leise: „Ich tu mit den Kumpels abhängen. Einen saufen und kiffen.“ Er schaute mir dabei schuldig in die Augen – vielleicht hielt er seine Antwort aber auch für uninteressant: Immerhin wollte ich angeblich für das Kopenhagener Abendblatt berichten. Und wahrscheinlich dachte er, dass wir Dänen unsere Freizeit ganz anders, weitaus spannender, verbringen. „Ja, verstehe“, ermutigte ich meinen unwilligen Interviewpartner. „Macht ihr auch noch was anderes ab und zu?“ Mario schwieg und dachte anscheinend nach.

„Ja, vor kurzem hatten wir hier in Oranienburg ein Stadtfest.“ – „Oh! Wahnsinn, da ist doch viel los, oder?“, fragte ich zurück. „Meinst du jetzt allgemein?“, grinste Mario. „Ja, erzähl mal, wie das Fest so gewesen ist, was habt ihr da gemacht?“ – „Oh ja, ging so, gab wieder richtig was auf die Fresse.“ – „Wie bitte?“, hakte ich ehrlich verwundert nach. – „Einige meiner Kumpels können, wenn sie einen im Tee haben, die Klappe nicht halten“, sagte Mario, „sie fangen dann immer Schlägereien an.“ Ich fühlte mich auf solch eine Gesprächswendung nicht richtig vorbereitet und hörte nur noch zu. „Diesmal hatte sich ein Kumpel von uns aber wohl den falschen Kunden ausgesucht. Der war echt aggressiv. Als mein Kumpel schon bewusstlos am Boden lag, kriegte er noch einen in die Fresse getreten.“ – „Wie geht es ihm jetzt?“, erkundigte ich mich höflich. „War dieser Kumpel von dir auch im Bowlingcenter, als wir uns kennen lernten?“ – „Nein, er liegt noch im Krankenhaus, hat einen Jochbeinbruch, und sein Auge“ – Mario wendete den Blick himmelwärts –,“… das erkennste fast nicht wieder.“

„Das ist aber doch ziemlich dramatisch?“, beteiligte ich mich emotional. „Nee, nichts Dramatisches! So ist eben das Spiel – entweder kriegen wir es ab oder die anderen. Man muss sich nur die richtigen Kunden suchen!“ Mario lachte über meine Einfühlsamkeit. Ich war nun doch verwundert und fragte ihn, wie er zu solchen Schlägereien stehe. „Ich finde sie Kacke!“, antwortete Mario mir, „ich möchte eigentlich nur in Frieden gelassen werden, aber wenn so ein Kunde uns dumm kommt … dann gibt’s halt was auf die Schnauze!“ Jetzt wollte ich genauer wissen, wie sich diese Schlägereien immer ergaben. Mario wiederholte aber nur noch einmal: „Wenn meine Kumpels einen im Tee haben, dann kann das eben einfach mal passieren.“

Das genügte mir als Antwort nicht, ich war auf einmal die forschende Soziologin. „Sag mal, schlagt ihr euch … äh … regelmäßig so?“ Darauf entgegnete er mir: „Weiß nicht. Ich denke, dass die Nazis immer in solche Schlägereien verwickelt werden.“ Erwartungsvoll schwieg ich – das Stichwort „Nazi“ hatte er ausgesprochen und schien sich demnach selbst nicht für einen richtigen Nazi zu halten. Er schwieg jedoch. „Nazis?“, fragte ich nach einer weiteren Schweigeminute. „Weißt du“, erklärte er, „bei uns hier gibt es richtige Nazis. Sie haben vor einem Monat im Schlosspark einfach so irgendwelche Jugendlichen angegriffen – mit Knüppeln, Elektroschocker und Gaspistolen.“ Ich schaute mich unwillkürlich um, und Mario bemerkte die Angst in meinen Augen. „Ich bin kein Nazi“, versicherte er, „und meine Kumpels sind auch keine.“

„Das ist auch gut so“, stammelte ich erleichtert. „Na ja, früher bin ich auch so rumgelaufen.“ „Und warum heute nicht mehr?“, fragte ich. Mario antwortete: „Is doch Scheiße, wenn jemand so in Uniform, so ’ne Bomberjacke … nichts gegen die Jacke allein, sie ist schon okay … aber dazu noch mit hochgekrempelten Hosen und Springerstiefeln rumläuft. Die sehen doch aus wie Idioten mit ihren Klamotten.“ „Finde ich auch“, ergänzte ich vorsichtig.

Und dann geht es mir besonders gegen den Strich, wenn einer seine Meinung mit so Stickern offen rumträgt. Die sollten besser alles da (Mario zeigte auf seinen Kopf) drinbehalten und nicht immer nach außen tragen.“ Ich nickte. „Ja, für mich ist das vorbei“, fuhr er etwas erschöpft fort, „heute möchte ich lieber kiffen.“ „Findest du gut, was die Nazis so aufbringen?“ – „Nee, eigentlich große Scheiße, aber sie müssen das, denke ich, wegen den Ausländern, nicht?!“ – „Wie meinst du das?“, fragte ich kritisch nach, „ich bin doch auch eine Ausländerin!“ – „Na, du doch nicht, du bist ja eine gute Ausländerin, ich meine die ganzen anderen – so Türken, Polacken, Russen, die ganzen Japsen aus Vietnam und China, so ’n Scheiß eben.“ Ich verschluckte mich. Wenn er wüsste, woher ich wirklich komme. „Ja, kuck mal, es sind doch ganz klar zu viele. Die überschwemmen doch so langsam alles bei uns. Besser wär’s, wenn sie nach Hause gingen!“

Ich fühlte mich, als ob ich einen Stock in den Popo gesteckt bekommen hätte. „Was hast du denn gegen all diese Ausländer?“, hörte ich mich fragen. „Na hör mal, jeder Mensch hat doch was gegen Ausländer, oder?“, erwiderte er. „Wenn du meinst …“, nuschelte ich. Mario schob noch eine Erklärung nach: „Wenn man zu ’ner Party geht, und da sind Ausländer da, man will in Ruhe einen kiffen, dann schreien die doch gleich rum und fangen an zu weinen.“ „Dein Freund im Bowlingcenter“, erinnerte ich mich, „sagte, dass die deutsche Volksgemeinschaft durch ausländischen Drogenverkäufer behindert wird.“ – „Was weiß ich, wahrscheinlich war er betrunken“, sagte Mario. Ich versuchte, das Thema zu wechseln, die Hauptaussagen hatte ich, man konnte das Interview langsam abrunden.

„Sag mal, Mario, warum fährst du so selten mit deinen Kumpels nach Berlin? Ist doch nur eine Stunde Fahrt, und man kann da viel unternehmen, Kino, Theater, verschiedene Clubs, Diskos, Festivals, die Love Parade und was weiß ich noch alles.“ Meine Stimme träufelte voll guter Hoffnung für die Zukunft der Oranienburger Jugend. „Ey, komm mir doch nicht mit so einem Scheiß wie Love Parade“, unterbrach mich Mario. „Die Mukke finde ich ja geil, aber die Leute haben da echt mit Wasserspritzen rumgemacht, ja.“ – „Mit was für Wasserspritzen?“, wunderte ich mich. – „Na, wo so was Giftiges drin war.“ – „Waaas? Was meinst du mit giftig?“ – „Na, so was Ansteckendes wie Aids oder so ’n Scheiß! Da geh ich doch nich‘ hin.“ Ich wusste nicht, wie ich auf diese Äußerung reagieren sollte. Zu lachen traute ich mich nicht, wir saßen immerhin im Konzentrationslagercafé, führten ein ausländerfeindliches Gespräch, bei dem ich als falsche Dänin mit russischem Akzent die Fragen stellte und in dem die Love Parade als aidsverseuchte Spritzenveranstaltung angesehen wurde.

Ich war erschöpft, betrübt, enttäuscht. Zum letzten Mal, wie ich hoffte, schaute ich Mario an, bedankte mich bei ihm mit heiserer Stimme für das Interview, in dem die Hoffnung auf eine Zukunft der Oranienburger Jugend versunken war. „Ich schick dir meinen Artikel aus Kopenhagen“, log ich Mario an und dachte: Wie viele Male im Leben wurde er schon belogen! Dann ging ich raus. Das Auto stand auf dem Parkplatz. Ich schmiss mich auf den Rücksitz. Hugo und Oliver stellten keine Fragen. Und ich schwieg auch – auf der ganzen Rückfahrt nach Berlin. Was für deprimierende Forschungserkenntnisse, was für ein Wunderland.

NATALIA HANTKE wurde 1967 in Kasachstan geboren, studierte Soziologie in Leningrad und Berlin und lehrt am Osteuropa-Institut der Freien Universität. Im Rahmen der hier beschriebenen Studie erschien in diesem Jahr im Verlag Hans Schiler „Futur Exakt: Jugendkultur in Oranienburg zwischen Rechtextremer Gewalt und Demokratischem Engagement“, Berlin, 18 Euro 302 Seiten