crime scene
: Spätlese

Spätestens im Juli meldet sich das schlechte Gewissen. Die Verlage haben längst die Herbst-Vorschauen verschickt, aber neben dem Schreibtisch stapeln sich noch die Leseexemplare der letzten Saison. Regalleichen, Todesursache ungeklärt, Krimis also, die man über andere Neuerscheinungen hinweg vergessen oder dem zuständigen Redakteur etwas zu ungeschickt angeboten hat: „Wenn es Ihnen nicht gefallen hat – warum wollen Sie es dann unbedingt besprechen?“

Tatsächlich sammeln sich im Laufe einiger Monate eine Menge an, die nicht richtig gut sind, gegen die sich allerdings auch keine schwergewichtigen Einwände machen lassen. Das beste Beispiel sind die skandinavischen Thriller, die von den Verlagen weiterhin großzügig auf den deutschen Markt geworfen werden. Unni Lindell hat einen „unglaublich spannenden Kriminalroman mit dem norwegischen Kommissar Cato Isaksen“ geschrieben, der „Nachtschwester“ heißt und immerhin nicht direkt langweilig ist. Die schwedische Journalistin Helena von Zweigbergk hat sich für ihr Debüt „Was Gott nicht sah“ mit der sexuell frustrierten Gefängnispfarrerin Ingrid zumindest eine interessante Hauptfigur ausgedacht, und Liselott Willén („Schwedens neue Starautorin“) erzählt in „Stein um Stein“ die Geschichte einer jungen Lehrerin, die von ihrem Direktor, ihren asozialen Schülern und ihrem untreuen Mann derartig unter Druck gesetzt wird, dass sie Grund genug für einen Massenmord hätte – auch wenn es zuletzt nur eine einzige Leiche gibt.

Wer noch nicht genug hat vom Schnee, der sich „wie eine alles erstickende Decke“ über die Landschaft legt, vom „eisigen Hauch“, der in diesen Breitengraden auch im März noch zu spüren ist, und vom Licht der Mitternachtssonne, das „schwer in den Gardinen“ hängt, hat bestimmt eine Menge Spaß mit diesen Romanen. Und weil das gar nicht so ganz wenige Leser und Leserinnen sind, hat sich auch der deutsche Romanautor Matthias Altenburg entschlossen, unter dem Pseudonym Jan Seghers einen Krimi nach skandinavischer Machart zu schreiben. „Heute war Dienstag, der 8. August 2000, es regnete seit Stunden, aber Marthaler lächelte“ – solche feinsinnigen, wetterfühligen Sätze haben dazu geführt, dass Altenburgs Kommissar in weihevollen Rezensionen als „Wallanders deutscher Bruder“ begrüßt wurde, selbst wenn „Ein schönes Mädchen“ nichts anderes als ein weiterer braver Krimi aus der heimatlichen Produktion ist. Nach seelischen Abgründen sucht man hier vergeblich, alle Beteiligten, einschließlich der Täterin, sind irgendwie ganz sympathisch, und Frankfurt wirkt durch das behutsam aufgetragene Lokalkolorit wie eine provinzielle Idylle.

Am Ende einer solchen Regaldurchsicht sehnt man sich vor allem nach Dreck, Dreck, Dreck, und ein schmales, zu Unrecht übersehenes Taschenbuch hat davon jede Menge zu bieten. Patrick Raynal schickt seinen fetten und verkommenen Flic Raymond Matas in „In der Hitze von Nizza“ auf die Jagd nach einem Killer und lässt ihn dabei auf die Gespenster seiner eigenen Vergangenheit bei einer revolutionären Splittergruppe treffen. Zu viel Alkohol, zu viel Koks und eine Überdosis enttäuschte Hoffnungen, das ist der Stoff, aus dem dieser Thriller gemacht ist – und Matas ist mit seinen verschwitzten Hemden und einer nicht registrierten Zweitwaffe die Idealbesetzung für diesen französischen Albtraum. KOLJA MENSING

Unni Lindell: „Nachtschwester“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Scherz, Frankfurt/Main 2004, 399 S., 19,90 Euro Patrick Raynal: „In der Hitze von Nizza“. Aus dem Französischen von Stefan Linster. Distel, Heilbronn 2004, 234 S., 10 Euro Jan Seghers: „Ein allzu schönes Mädchen“. Wunderlich, Reinbek bei Hamburg 2004, 479 S., 19,90 Euro Liselott Willén: „Stein um Stein“. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. btb, München 2004. 381 S., 21,90 Euro Helena von Zweigbergk: „Was Gott nicht sah“. Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt. Krüger, Frankfurt/Main 2004, 300 S., 19,90 Euro