Flüsse ohne Ufer

Literatur, Politik und Wirklichkeit: Wie in neuen israelischen Romanen mit dem schwierigen Mit- und Gegeneinander von Israelis und Palästinensern umgegangen wird

VON MARCO STAHLHUT

Als die israelische Autorin Zeruya Shalev Anfang des Jahres in Jerusalem Opfer eines Selbstmordattentats wurde und nur schwer verletzt überlebte, konnte man das als Symbol verstehen: Shalev, die mit Büchern wie „Mann und Frau“ und „Liebesleben“ auch in Deutschland Erfolge feierte, ist eine unpolitische Schriftstellerin. Sie ist mitverantwortlich für einen Trend in der israelischen Kunst: dem Trend zum Privaten. Zu diesem zählen etwa auch Nir Bergmans Film „Broken Wings“ oder Edgar Kerets Erzählband „Mond im Sonderangebot“.

Und doch kann man dem Zusammenhang von Politik und Kunstproduktion in Israel auf Dauer nur schwer entkommen. Wenige Wochen nach dem Attentat in Jerusalem gab es einen mittleren diplomatischen Aufruhr in Schweden. Der israelische Botschafter Zvi Mazel geriet bei einer Ausstellungseröffnung in Stockholm so sehr in einen Zornesausbruch, dass er eines der Exponate zerstörte. In der Gemeinschaftsarbeit eines israelischen und eines arabischen Künstlers war das Foto einer palästinensischen Selbstmordattentäterin zu sehen, die sich im Oktober 2003 in Haifa in die Luft sprengte und 19 Menschen mit in den Tod riss.

Fragen also, die saturierten westlichen Lesern lange Zeit als obsolet erschienen oder bloß noch à la mode beantwortet wurden – Moderne, Postmoderne, Post-Postmoderne –, stellen sich für die israelische Literatur so zwingend wie konkret: nach literarischen Zugriffsmöglichkeiten auf die Wirklichkeit, nach Literatur und Engagement.

Beispielhaft wird das an mehreren Romanen, die in kurzer Folge auf Deutsch erschienen sind, an Gilad Atzmons „Anleitung zum Zweifeln“, Abraham B. Jehoschuas „Die befreite Braut“, Yitzak Laors „Steine, Gitter, Stimmen“ und Orly Castel-Blooms „Das Meer im Rücken“. Bereits einige der Schriftstellerbiografien lesen sich wie aus einer anderen Welt. So bezeichnet Gilad Atzmon den von ihm gewählten Wohnort London als „Exil“. Yitzak Laor hat den Armeedienst in den besetzten Gebieten verweigert. Seine politische und ästhetische Renitenz bestrafte der israelische Ministerpräsident 1990 mit der Verweigerung einer Preisübergabe. Darüber hinaus exponierten sich Laor und Jehoschua in der Diskussion um den „Postzionismus“. Diese kreist darum, ob sich Israel weiterhin als rein jüdischer Staat verstehen sollte oder als Staat aller seiner Bürger, inklusive dem arabischen Bevölkerungsanteil. Jehoschua stritt vehement für Israel als jüdischen Staat, Laor für eine Öffnung des Selbstverständnisses.

Der Ich-Erzähler von Gilad Atzmons „Anleitung zum Zweifeln“, Gunther Wanker, imaginiert sich in seiner Jugend als Oberst der israelischen Armee. Er hat den brennenden Wunsch, den Heldentod zu sterben. Doch seine ersten sexuellen Erfahrungen belehren ihn eines Besseren – er will lieber leben statt sterben. In die Armee eingezogen, schießt sich Gunther bei einem Angriff selbst ins Bein, nur um im Krankenhaus als Kriegsheld wieder aufzuwachen. Man merkt allein an dieser Episode: „Anleitung zum Zweifeln“ ist ein Schelmenroman.

Später geht Wanker nach Deutschland ins Exil und wird zum Begründer der „Peepologie“ – einer Wissenschaft, die die Peep-Show-Erfahrung auf die Gesamtgesellschaft herunterbricht. Sie entpuppt sich als müder Aufguss von Houellebecq, Baudrillard und Foucault: „In jenen Jahren begriff ich, dass sich unser ganzes Leben in eine einzige große Onanie verwandelt hat. Wir konsumieren Simulationen, statt uns mit dem wirklichen Leben zu befassen. […] Wir kaufen Pornohefte, Pornofilme und Gummipuppen, da uns längst nichts mehr erregt. Wir feiern die Sexualität in unserer fortgeschrittenen Kultur mehr denn je, doch der Sex selbst ist uns schon vor langer Zeit entglitten.“

Atzmons Roman lehrt den Leser weniger das Zweifeln als das Abc der literarischen Provokationsstrategie. „Herausgegeben“ wird der Text von einem „Deutschen Institut zur Dokumentation Zion“(!). Provozieren soll die Motivierung dieser Dokumentation durch das Ende des Staates Israel: Er ist durch einen grundgütigen palästinensischen Staat abgelöst worden. Provokativ wird etwa die erotische Anziehungskraft der „arischen“ Frauen beschworen. Es mag Ironie sein, dass Wanker ausgerechnet in Deutschland eine Beziehung mit einer Gummipuppe hat – die zufriedenstellendste Beziehung seines Lebens. Auch für die literarische Rezeptur hat Michel Houellebecq Pate gestanden: die originell gestörte Sexualität des Protagonisten, dessen übliche Ressentiments gegen Ausländer, Semiten, Schwule und Frauen, dazu einige Generalthesen zur Weltlage und Geistesgeschichte. An der deutsch-jüdischen Geschichte und dem israelisch-palästinensischen Konflikt prallt Atzmons Roman jedoch ab.

Ist „Anleitung zum Zweifeln“ die Satire auf einen Gelehrtenroman, so bevorzugt Abraham B. Jehoschua mit „Die befreite Braut“ die konventionelle Form dieses Genres. Seine Hauptfigur Rivlin ist ein israelischer Professor für Orientalistik, dessen Forschungsarbeit den Ursachen der islamistischen Gewalt in Algerien gilt. Mit seiner Frau fährt Rivlin zu der Hochzeitsfeier einer arabischen Studentin und bekommt dort melancholische Anwandlungen: Er trauert der gescheiterten Ehe seines ältesten Sohnes nach. Rivlin versucht nun den Gründen dafür nachzuspüren. Die Suche nimmt Züge einer Kriminalgeschichte an. Zum anderen gerät er auch in die Welt seiner arabischen Studentin, und so verstrickt sich der Roman mehr und mehr in den Netzen des israelisch-palästinensischen Verhältnisses – eine Beziehung, auf der gewiss kein Segen zu liegen scheint. Zweideutig, ob der Schlüssel zur israelisch-palästinensischen Beziehung in der arabischen Identität der Palästinenser gesucht werden muss oder im politischen Machtverhältnis beider Völker zueinander.

So überzeugt Jehoschuas Text vor allem als Ausdruck von Ratlosigkeit. In den besetzten Gebieten wird Rivlin Zeuge eines Kabaretts: „Mit Imitationstalent und wenigen, aber treffenden Requisiten springen die beiden Seminaristen […] von einer prominenten oder privaten Figur zu anderen, mal Palästinenser, mal Israeli, um fließende Übergänge herzustellen oder Verwirrung zu stiften, bis schließlich alle zu einer einzigen zerstrittenen, monströsen, aber auch bedauernswerten Figur verschmelzen …“

Fließende Übergänge und sich auflösende Identitätsgrenzen sind gute Stichworte für Yitzhak Laors „Steine, Gitter, Stimmen“. In diesem Roman gibt es keine klar umrissene Hauptfigur, keine Charaktere, keine Handlung, letztlich keinen Roman – zumindest im herkömmlichen Sinne. Es gibt nur personale und thematische Fäden, die auseinander laufen und sich zum Teil wieder zusammenfügen. Das Buch beginnt vor einem martialischen Hintergrund, hoch komisch: Tausend israelische Panzer sollen in den Libanon einrücken, aber vier von ihnen sind in Tel Aviv hängen geblieben. Da der befehlshabende Offizier damit beschäftigt ist, seine Pickel auszudrücken, übernimmt der Gefreite Gadi das Kommando. Er muss seinen Vater anrufen, um nach dem Weg in den Libanon zu fragen. „Fahrt jetzt nach links, danach an der dritten Ampel, nein, nein, an der vierten nach rechts und dann weiter geradeaus und links, bis zum Ende und erst am Ende nach links, nicht wie vorher, verstanden?“

In einem Essay zum 11. September schreibt Laor: „Wen ekelt es nicht bei dem Gedanken daran, dass diese Verbrechen etwas mit Befreiung zu tun haben sollen? Aber auch der westliche Nihilismus kennt eben keine Grenzen, er ändert fast spielerisch seine Definitionen von ‚Freiheit‘ und ‚Terror‘, ‚Gemäßigtem‘ und ‚Extremisten‘, und alles Feststehende löst sich in Luft auf.“ Die Auffassung von Handlungen als freiheitlich oder terroristisch, als gemäßigt oder extremistisch hängt dann daran, wer diese Handlungen vollzieht. Wer sich gegen das amerikanische oder israelische Militär wehrt, handelt von vornherein terroristisch.

Laors literarische Subversion individueller und national-ethnischer Identitäten hat folglich einen präzise politischen Sinn. Einen vielleicht allzu expliziten Ausdruck gewinnt diese Identitätssubversion im Roman dort, wo ein israelischer Gefängniswärter jüdische und arabische Insassen durch Inspizierung ihrer Geschlechtsteile voneinander zu scheiden sucht. Das muss natürlich scheitern, da Juden wie Muslime beschnitten sind.

Gegen Ende von „Steine, Gitter, Stimmen“ heißt es: „Geschichten sind Geschichten. […] Aber auch das juristische Procedere reicht nicht zur Erforschung der Wahrheit […]: Die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit eines Menschen zu einer Nation. Stellt euch vor, Menschen könnten sich eine solche Zugehörigkeit einfach so wählen. Oder schlimmer noch, stellt euch vor, Menschen würden sich von derartigen Banden einfach lossagen. Dies ist das Ende der Geschichte. Ein gutes Ende.“ Und das gute Ende eines beeindruckenden Romans.

Am konkretesten im Israel dieser Zeit ist vielleicht Orly Castel-Blooms Roman „Das Meer im Rücken“. Er gilt in Israel als erster Roman, der das Leben während der zweiten Intifada beschreibt. Das hat manchen Leser überrascht, denn Castel-Blooms Vorgängerroman „Dolly City“ war zwar nicht ohne politische Spitzen, in seiner irren Surrealität von jeder einfachen Wirklichkeitsdarstellung aber weit entfernt. Vielleicht sei nicht Castel-Bloom Realistin geworden, merkte ein Kritiker der israelischen Tageszeitung Ha’aretz in einer Rezension an, sondern die Realität „Castel-Bloomianisch“. Die Technik des Romans kennt man von Robert Altmans „Short Cuts“ oder Ingo Schulzes „Simple Storys“: Er folgt ausschnitthaft dem Leben einiger Personen in Tel Aviv, die sich teils bekannt, teils lose miteinander verbunden sind. Der Originaltitel „Human Parts“ ist doppelbödig: Man kann ihn sowohl auf diese Erzählweise beziehen als auch auf die menschlichen Leichenteile, die nach Bombenattentaten übrig bleiben. Zum Personal gehören beispielsweise Adir und seine Schwester Liat, die Erben mehrerer Immobilien sind. Oder Ventura, die einmal die Geliebte von Adir war und nun allein mit drei Kindern und wenig Unterhalt in einer schimmelnden Mietwohnung wohnt. Dann sind da noch Tasaro und Kati. Tasaro stammt aus einer sehr armen äthiopisch-jüdischen Familie, die mit der „Operation Schlomo“ nach Israel geholt wurde. Tasaro arbeitet als Model, am Ende wird sie Assistentin beim TV-Glücksrad: eine Aufsteigerin. Kati wiederum möchte Maskenbildnerin werden. Ihr Mann Boas ist seit einem Unfall berufsunfähig. Wegen der Heirat mit Kati, einer orientalischen Jüdin, wurde er von seinen Eltern enterbt. Kati und Boas sind so bitterarm, dass sie ihren vier Kindern in kalten Wintern nicht einmal paarweise Handschuhe verschaffen können.

Castel-Blooms will mit ihrer Zusammenstellung aus europäischen, orientalischen und schwarzen Juden, aus verschiedenen Milieus, aus Arm und Reich und Aufsteigern und Absteigern, ein Breitwand-Panorama der israelischen Gesellschaft zeigen. Das Schicksal der Personen ist über das Individuelle hinaus beispielhaft. Die Zeichnung der Personen aber ist so oberflächlich, dass man es weniger mit Individuen als mit Stereotypen zu tun hat: von der verarmten allein erziehenden Mutter bis zum aufstrebenden Unterschichtler. Es liegt an der Überhöhung des Romanpersonals ins Beispielhafte einerseits, seiner Stereotypisierung anderseits, dass die Handlung den Leser trotz aller dramatischen Wendungen kalt lässt.

Auffällig im Übrigen ist, dass die Palästinenser ausschließlich eine terroristische Bedrohung darstellen. Während sie in der israelischen Realität immerhin Statistenrollen als Putzfrauen und Hilfsarbeiter besetzen, tauchen sie in „Das Meer im Rücken“ ausschließlich als Attentäter auf.

Gilad Atzmon: „Anleitung zum Zweifeln“. Übersetzt von Gabriela Hegedus. dtv, München 2003, 179 Seiten, 12,50 Euro Abraham B. Jehoschua: „Die befreite Braut“. Übersetzt von Ruth Achlama. Piper Verlag, München 2003, 512 Seiten, 24,90 Euro Yitzak Laor: „Steine, Gitter, Stimmen“. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Unionsverlag 2003, 541 Seiten, 22,90 EuroOrly Castel-Bloom: „Das Meer im Rücken“. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Piper Verlag, München 2004, 267 Seiten, 19,90 Euro