Nicht von schlechten Elstern

Der Ruf der Elster könnte schlimmer nicht sein: ein Singvogel, der stiehlt, hässlich kreischt und zudem Eier von kleineren Vögeln frisst. Tatsächlich sind Elstern friedlich, geschickt und höchst intelligent. Ein Plädoyer gegen die Ökonomisierung der Natur

VON CORD RIECHELMANN

„Glauben bedeutet, von einem Teil der Natur einen anderen Teil, der nicht gegeben ist, abzuleiten.“ Gilles Deleuze in „David Hume“

Die geschätzte Redakteurin hatte sich hinter ihrem Flachbildschirm von ihrem Schreibtischstuhl erhoben, war einen Schritt zur Seite gegangen und skandierte: „Über Elstern lasse ich mir gar nichts mehr erzählen. Selbst von Ihnen nicht. Ich habe in meinen Hof gesehen, was die tun!“ Die nickende Bewegung des Kopfes, die mit den letzten Worten einherging, manifestierte sozusagen das aus der Beobachtung geronnene Kausalitätsverhältnis zum Gesetz.

Was sie gesehen hatte, haben viele schon beobachtet, wahrscheinlich sogar Schlimmeres. Elstern stillen manchmal ihren Hunger dadurch, dass sie im Frühjahr brütenden, kleineren Vögeln – mit Vorliebe Amseln – die Eier oder die schon geschlüpften Nestlinge rauben und sie auffressen. Die Meinung, Elstern seien böse Vögel und bedrohten durch ihre Nesträubereien den Fortbestand anderer Vogelarten, ist ein weit verbreiteter Allgemeinplatz. Über Elstern ist vermutlich noch mehr Unfug in der Menschenwelt als über Drogen unter Drogenbenutzern oder über die so genannte Wirtschaft nach dem Ende des New Economy Booms unter Journalisten.

Aber in der Häufung nervt das Vorurteil dann doch. Zumal wenn ein paar Tage später dann noch ein Hundebesitzer seinen Hund ins Gebüsch hetzt, um eine gerade flügge gewordene, noch unerfahrene Elster zu jagen. Und darauf aufmerksam gemacht, dass das erstens verboten und zweitens eine Gemeinheit sei, mit Hund nur zurückkeift, die Biester richteten sowieso nur Schaden an – und so weiter. Zum Glück war der Hund so dämlich wie die Elster schlau.

Dass Elstern intelligent sind und neben einer herausragenden Beobachtungsgabe auch über technisches Geschick verfügen, wird auch von ihren menschlichen Feinden anerkannt. Sie sind zum Beispiel in der Lage, Dachziegeln anzuheben, um darunter portionierte Nahrung zu verstecken und bei Bedarf wieder hervorzuholen. Zum Vorteil haben das die Feinde dem schwarz-weißen Vogel mit dem metallic-schwarzblau glänzenden, langen Schwanz aber nie angerechnet. Im Gegenteil. Die Geschichte ihrer Bestandsentwicklung im 20. Jahrhundert in Deutschland spiegelt auf merkwürdige Art die politische Kultur des Landes.

Von 1900 bis 1920 waren die zuvor überall auf dem Land vorkommenden Vögel durch massive Verfolgung und Bejagung soweit dezimiert, dass die meisten Ornithologen mit ihrem baldigen Aussterben rechneten. Gegen Ende der 20er-Jahre erholten sich die Elsterpopulationen langsam wieder und kehrten in früher verlassenen Gebiete zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten sie in den waffenlosen Jahren bis 1950 wieder Siedlungszahlen, wie man sie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts kannte. Um nach 1950 mit der wieder einsetzenden Jagd und der zunehmenden Intensivierung der Landwirtschaft abermals unter massiven Druck zu geraten. Dass sie in der Folge ihre Populationsgrößen trotzdem konstant halten konnten, hatte einfach damit zu tun, dass sie die Stadt als Lebensraum entdeckten.

Während sie in ländlichen Gebieten teilweise bis heute immer seltener werden, nimmt ihre Zahl in Städten immer mehr zu. Für die Elstern ist das insofern ein Vorteil, weil ihnen die Jäger dorthin nicht nachkommen können. Bis in die Siebzigerjahre verfolgten sie die Vögel teilweise mit so widerlichen Methoden wie der, mit Schrot oder Kleinkalibergewehren von unten während der Brut- und Aufzuchtzeit in ihre Nester zu schießen.

Die Urteile über ihr angeblich böses Tun, sind ihr trotzdem auch in die Stadt hinterhergeflogen. Das ist wirklich widersinnig. Es gibt nämlich tatsächlich einen wissenschaftlich stichhaltigen Zusammenhang zwischen der Population von Elstern, die wie alle Rabenvögel zu den Singvögeln gehören, und der kleinerer, vermeintlich seltener und bedrohterer Singvögel. Elstern sind immer da besonders häufig, wo auch Amseln, Buchfinken, Grünlinge, Meisen, Zaunkönige oder Nachtigallen besonders zahlreich sind. Es ist ja auch wirklich nicht ganz leicht zu verstehen, dass Elstern in manchen Gegenden tatsächlich einen Großteil der Erstbruten von Amseln fressen und sich trotzdem kein nachweisbarer Einfluss dieser Tatsache auf den Bestand der Amseln finden lässt. Um das aufzuklären, muss man das Spektakel von Fressen und Gefressenwerden auch genau betrachten.

Amseln bringen es in Städten mitunter auf bis zu drei Bruten in einem Jahr und offensichtlich können sie sich den Verlust des ersten Geleges „leisten“. Dass Elstern die Zweitbruten wesentlich weniger bis gar nicht angreifen, erklärt sich aus ihren Fressgewohnheiten. Magen-, Kot- und Speiballenanalysen von Elstern ergeben überall – ob in Manchester, Poznan oder Erfurt – ein ähnliches Bild. Sie ernähren sich in der Hauptsache von Samen, Früchten, Insekten und deren Larven, Regenwürmern, Knospen und Haushaltsabfällen aller Art, von Fischschuppen bis Hühnerknochen. Kleinvogelküken- oder Eierreste lagen bei allen Untersuchungen etwa bei drei Prozent.

Das Gezeter um diesen verschwindend geringen Anteil ihrer Nahrung könnte auch mit der Dauerpräsenz der Tiere zusammenhängen, ihrer Größe und Farbe. Elstern sind Standvögel, sie bleiben das ganze Jahr in ihren Revieren, halten sich gern an exponierten Stellen auf und bauen ihre großen Nester unübersehbar in hohe lichte Stellen der Bäume. Wenn sie die Nester, was nicht alle tun, auch noch mit einem Dach versehen, fallen die Kugeln buchstäblich ins Auge. Zudem sind Elstern selten still. Ihr Geschacker und „Tschark“-Geschirk kann sich von Herbst bis in den beginnenden Frühling, wenn sie sich in Städten zu Versammlungen von bis zu vierhundert Tieren treffen, zu Kreischkonzerten ausweiten, deren melodischer Anteil gering ist.

Außerdem spielen sie gern mit glänzenden Gegenständen wie Plastiktüten oder Silberschokoladenpapier. Was ihnen den Ruf des Diebes eingebracht hat. Sie stehlen die glänzenden Gegenstände jedoch nicht, was man auch daran sehen kann, dass sie die Sachen nicht verstecken. Während sie Pflanzenzwiebeln, Käse oder Eicheln so speichern, dass sie kein anderer finden kann, lagern sie Plastiktüten oder Messingdrähte ganz offen für jeden sichtbar am, neben oder auf dem Nest.

Bleibt allerdings die Frage, woher sie dann ihren Ruf haben. Die Ökonomisierung der Natur könnte dabei eine Rolle spielen, die nicht erst im 19. Jahrhundert beginnt, sondern bereits bei Francis Bacon formuliert ist. Jene Sicht, die meint, nur den starken Baum, der auch Früchte trägt, jedes Jahr mehr, und dabei kerngesund ist, gießen zu müssen, und den Strauch der keine schönen Blüten trägt, als Unkraut auszureißen und zu vernichten. Ein Blick in andere Kulturen bestätigt das. In der Mongolei etwa sind Elstern fast heilige Vögel, und an jeder Jurte gibt es auch ein Paar, dessen Flug man aufmerksam verfolgt.

Oder wie in Bombay, einer Stadt, die beispiellos zahlreich von Krähen besiedelt wurde, jeder eine Krähengeschichte kennt und erzählt, die alten und schwach gewordenen sogar im Altersheim versorgt. Es scheint angesichts der Elster fast so, als sei hierzulande selbst der Glaube dabei, im Kalkül von Nützlichkeit zu verbiestern. Den Elstern aber wird’s egal sein, in Städten sind sie sicher.