Die Waden des Grauens

VON SEBASTIAN MOLL

Wer mit Lance Armstrong spricht, sollte seine Gedanken beisammen haben. Während man Fragen an den sechsfachen Sieger der Tour de France formuliert, schaut er einem bohrend und hochkonzentriert in die Augen. Sind einzelne Worte oder Satzteile vage formuliert, hakt er prompt nach und bittet um Präzisierung. Auf Fangfragen fällt er nie herein, er nimmt immer zugleich die syntaktische Bedeutung und die Metaebene wahr. Hat er sich zu dem betreffenden Thema bereits eingehend Gedanken gemacht – was meistens der Fall ist – antwortet er rasch und genau. Wird er mit etwas Neuem konfrontiert, verschafft er sich Raum zum Nachdenken, in dem er ein lang gezogenes „Mmmmmhh“ ausstößt. Man sieht dann förmlich, wie er um die richtige und aufrichtige Antwort ringt – um eine Antwort, auf die man ihn auch später noch festlegen kann.

Lance Armstrong ist bedingungslos geradlinig und klar. Solche Menschen gibt es selten, und deshalb ziehen sie andere Menschen an. Charisma nennt man das. „Er ist ungeheuer intensiv“, sagt Sally Jenkins, die Ghostwriterin seiner Autobiografie, „er zieht einen in seinen Bann.“ „Die Menschen möchten in seiner Nähe sein“, sagt Kevin Livingston, ein Jugendfreund und früherer Mannschaftskamerad von Armstrong.

Livingston war über lange Jahre Armstrong näher als irgendjemand sonst. Er war ein Sportkamerad Armstrongs aus Jugendtagen, und sie wuchsen gemeinsam in das Profigeschäft hinein. Er war bei seinem Freund, als dieser mit dem Krebs rang, und er war in Armstrongs Mannschaft, als er 1999 zum ersten Mal die Tour de France gewann. Doch als Livingston die Rolle als Steigbügelhalter für die Mehrung von Armstrongs Ruhm leid war, zerstritten sich die Freunde. Armstrong wertete Livingstons Schritt zu einer anderen Mannschaft als Verrat. Dabei wollte Livingston nichts anderes als einmal auf eigene Rechnung Radrennen fahren: „Er versteht nicht, dass es dabei nicht um ihn geht“, sagte er frustriert und konsterniert.

Das war vor vier Jahren. Inzwischen hat Armstrong gelernt. Andere Fahrer haben sich nach der Zeit bei Armstrong selbstständig gemacht, und Armstrong hat ihre Entscheidungen respektiert. Mehr Raum für eigene Entfaltung lässt er deshalb seinen Angestellten nicht. „Wer eigene Ambitionen hat, muss woandershin gehen“, sagt Armstrong. In seiner Organisation gibt es nur Platz für ein Ziel – den Tour-Sieg des Chefs.

Aber auch das trägt zu Armstrongs Strahlkraft bei. Es ist Teil seiner Direktheit und Eindeutigkeit – jener Eigenschaften, nach denen sich so viele Menschen sehnen und die so selten anzutreffen sind. Und weil Armstrong sie besitzt, herrscht er über eine Mannschaft von Weltklasseathleten, die bereit sind, ihr Talent und ihren Ehrgeiz sowie den Ertrag ihrer beinharten Arbeit von 30.000 qualvollen Jahreskilometern im Rennsattel an Armstrong zu überschreiben.

Nehmen wir Vjatcheslav Ekimov. Der Russe ist 38 Jahre alt und ist 14-mal die Tour de France gefahren. 2000 in Sydney wurde er Olympiasieger, noch im vergangenen Jahr wurde er Dritter bei Paris–Roubaix, dem prestigeträchtigsten und härtesten Eintagesrennen im Profisport. Doch das war nur ein Abfallprodukt seiner Vorbereitung auf die Tour de France.

Bei der Tour ist seine Aufgabe allerdings eine wenig glanzvolle. Um zehn Uhr am Abend der sechsten Etappe dieses Jahres kommt er in die Bar des Hotels Angevine im Örtchen Pouance in der Eure-et-Loire-Region gehumpelt. Nur sehr verkrampft kann er sich auf einem Hocker niederlassen, weil sein Rücken, seine Schultern und seine Arme von blauen Flecken und Schürfwunden überzogen sind. Einen Kilometer vor dem Ziel in Angers am Nachmittag war Ekimov in einen Massensturz bei Tempo 60 gerasselt: „Ich bin über die Absperrgitter gesegelt“, erzählt er, „und dann gingen die Lichter aus.“

Als er Sekunden später wieder zu sich kam, sagt er bei einem dringend nötigen Bier in fließendem Amerikanisch, habe er als Erstes geschaut, ob Lance in Sicherheit ist. Erst als er wusste, dass seinem Chef nichts geschehen war, berappelte er sich und rollte über die Ziellinie, wo er medizinisch versorgt werden konnte. „Mein Job bei der Tour ist simpel“, erklärt Ekimov. „Ich muss Lance Ärger vom Hals halten.“ So simpel, wie das klingt, ist das jedoch nicht. Die Flachetappen der ersten Woche sind durch ein nervöses Geschiebe des übermotivierten Feldes von 180 Mann gekennzeichnet – 99 von ihnen stürzten in diesem Jahr, und viele mussten deshalb schon ihre Hoffnungen aufgeben, bevor das Rennen richtig losging. „Sicher ist es nur an der Spitze des Feldes“, sagt Ekimov. Deshalb muss er Armstrong mit Ellbogen immer wieder dorthin bugsieren und ihm dort den Weg frei schaufeln. Die eigenen Knochen zählen dabei nichts.

Armstrongs Mannschaft besteht ausschließlich aus Ekimovs. Weltklassefahrer, die bereit sind, für Armstrongs Ruhm die Drecksarbeit zu machen. Edelhelfer nennt man das im Radsport, und der Edelste von ihnen ist vermutlich der Portugiese José Azevedo. Auf der entscheidenden Bergetappe in den Pyrenäen machte er für seinen Chef so lange das Tempo, bis außer Armstrong nur noch der Tour-Zweite Ivan Basso folgen konnte. Dann ließ er sich zurückfallen und bewachte Jan Ullrich bis ins Ziel. Die Leiter der anderen Tour- Mannschaften waren sich einig: Würde Azevedo auf eigene Rechnung fahren, könnte er unter die ersten drei der Tour kommen. Doch Azevedo findet ausreichend Befriedigung im Dienst für Armstrong: „Es ist eine Ehre, der Helfer des besten Fahrers der Welt zu sein.“

Lance Armstrong war nicht immer der charismatische Anführer, der er jetzt ist. Nach seiner Krebserkrankung war er weit von der körperlichen Leistungsfähigkeit eines Weltklassefahrers entfernt, ganz zu schweigen von der eines Tour-Siegers. Das Selbstvertrauen, dass er eine Tour de France gewinnen kann, gab ihm ein anderer – der Belgier Johan Bruyneel, der Sportdirektor von Armstrongs Mannschaft. Bruyneel war bis 1998 ein mittelmäßig talentierter Fahrer mit überdurchschnittlicher Intelligenz. Während seiner gesamten Radsportkarriere hatte Bruyneel darüber nachgedacht, wie man die Tour gewinnen kann, und ein Konzept für die Vorbereitung und die Taktik ausgetüftelt. Nur der Körper fehlte ihm dazu. Den steuerte Lance Armstrong zu dem Projekt bei.

Zusammen haben sie ein beinahe narrensicheres Programm für den Tour- Sieg geschaffen. Und der Erfolg verleiht ihnen den Nimbus, im Besitz eines Geheimwissens zu sein, das Normalsterblichen verschlossen bleibt. Sie haben es als Erste in der Geschichte des Radsports geschafft, sechsmal die Tour zu gewinnen, und vermutlich schaffen sie es auch ein siebentes Mal. Das schafft Bewunderer und eine schier endlose Warteliste von guten Leuten, die daran teilhaben wollen. Fahrer, Angestellte, Manager, Sponsoren – Armstrong und Bruyneel können sich die Besten aussuchen.

Armstrongs Neigung, Leute, die sich nicht um ihn scharen, als Feinde zu betrachten, hat sich mit dem Erfolg jedoch nur teilweise gelegt. Er kann zwar mittlerweile Kollegen, die ihre eigene Karriere verfolgen, ohne Groll ziehen lassen. Kritiker bedenkt er jedoch nach wie vor mit bisweilen überzogener Härte. Wie etwa den eher mittelmäßigen italienischen Radprofi Filipo Simeoni.

Simeoni hatte in einem Dopingprozess in Italien gegen den Sportmediziner Michele Ferrari ausgesagt, der unter anderem Lance Armstrong betreut. Die Beschuldigungen gegen Ferrari führten zum Dopingverdacht gegen Armstrong – der englische Reporter David Walsh trug Indizien zusammen und veröffentlichte sie in dem Buch „LA Confidential“, das kurz vor der diesjährigen Tour erschien. Armstrong nannte Simeoni daraufhin in einem Rundfunkinterview einen Lügner, der versuche, von den eigenen Dopingverfehlungen abzulenken.

Simeoni wollte sich das nicht gefallen lassen: „Ich beuge mich nicht der Macht des großen Armstrong“, sagte er und verklagte Armstrong wegen übler Nachrede. Dass Simeoni gegen ihn aufbegehrte, empfand wiederum Armstrong als Hybris. Als Simeoni während der diesjährigen Tour mit einem Angriff während der neunten Etappe Jagd auf einen Tagessieg machte, ließ Armstrong den Italiener durch seine Mannschaft stellen – obwohl Simeoni für ihn keine sportliche Gefahr darstellte und es auch sonst keine Gründe für den Konter gab.

Armstrong herrscht in der Welt seines Sportes wie sonst kein Sportler. Mit der Welt jenseits der Rennstrecke, wo er nicht der uneingeschränkte Patron ist, hat er hingegen bisweilen seine Probleme. „Die Tour de France zu gewinnen ist einfach“, weiß er selbst. „Andere Dinge, wie Vater zu sein und eine Ehe zu führen, sind hingegen komplizierter“, sagte er, nachdem im vergangenen Jahr seine Ehe in die Brüche ging. Und vielleicht ist diese Einsicht der Grund, warum er sich auf ein Karriereende nicht festlegen möchte. Im Radsport reißt man sich darum, ihm zu dienen. In der Wirklichkeit außerhalb des Showbetriebs Profisport ist das nicht so sicher.