Land unter in Bangladesch

Ungewöhnlich starke Überschwemmungen machen mehr als 20 Millionen Menschen obdachlos. Umweltzerstörungen an den Oberläufen verschärfen die alljährlichen Fluten. Bisher 400 Todesopfer in Bangladesch und 730 im angrenzenden Ostindien

AUS PUNE RAINER HÖRIG

Zwei Drittel von Bangladesch sind überflutet. In den Straßen der Hauptstadt Dhaka steht eine braune, stinkende Brühe aus Schlamm und Abwässern. „Das Wasser steigt weiter und bringt noch mehr Schmutz. Wir leben hier in einer Kloake“, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters den Hauptstadtbewohner Abu Kalam. Ärzteteams und Katastrophenhelfer sind im Einsatz, um Cholera- und Typhus-Epidemien zu verhindern. In Bangladesch sind mehr als 20 Millionen Menschen, ein Siebtel der Bevölkerung, obdachlos geworden. Bislang ertranken rund 400 Menschen in den schlammigen Fluten, starben an Durchfall oder Schlangenbissen. 730 Hochwassertote gab es in den angrenzenden Bundesstaaten Indiens.

Starke Regenfälle haben in den vergangenen Wochen die Flüsse im Osten des indischen Subkontinents über die Ufer getrieben. Ein hoher Wasserstand im von Monsunwinden aufgepeitschten Golf von Bengalen behindert ein schnelles Abfließen der Wassermassen. Deiche brechen, Häuser, Viehställe, Straßen und Brücken werden vom Wasser fortgerissen. Die Flut vernichtet nicht nur die gerade aufkeimende Neusaat, sondern auch die Vorräte der Bauern.

Die meisten Brunnen sind wegen Überflutung unbrauchbar geworden. Die Menschen waten bis zum Hals im Wasser, die letzten Habseligkeiten auf dem Kopf balancierend, retten sich auf die Dächer ihrer Häuser, auf Deiche und Brücken. Das Fernsehen zeigt Bilder von ganzen Dorfgemeinschaften, die, wie Vieh zusammengepfercht auf einer winzigen Insel inmitten endloser Wassermassen, auf Hilfe warten.

Viele Straßen sind unpassierbar, Telefonleitungen durchtrennt, die Stromversorgung unterbrochen oder wegen Kurzschlussgefahr abgeschaltet. Armee-Hubschrauber fliegen pausenlos Einsätze, um Gestrandete aus der Luft mit dem Nötigsten zu versorgen: Kekse als Notnahrung sowie Tabletten zur Desinfizierung von Trinkwasser.

Die fruchtbaren und dicht besiedelten Flussebenen im Osten des indischen Subkontinents sind von hohen Bergketten umgeben, die starke Niederschläge verursachen. Alljährlich zur Monsunzeit treten die Flüsse aus dem Himalaja über die Ufer und lagern fruchtbaren Schwemmschlamm auf den Feldern ab. Die beiden Ströme Ganges und Brahmaputra vereinen sich in Bengalen zum größten Flussdelta der Welt, das etwa die Hälfte des Staatsgebietes von Bangladesch einnimmt. Menschliche Versuche, das Wasser aus dem Himalaja durch Deiche und Dämme zu kontrollieren, erreichten das Gegenteil. Aufgrund der gewaltigen Sedimentlast der Flüsse aus dem Himalaja müssen die Deiche stetig höher gebaut werden. Im Norden des indischen Unionsstaates Bihar etwa rauschen eingedeichte Flüsse wie Gandak oder Kosi mehrere Meter über dem umgebenden Ackerland zu Tal. Bricht ein Damm, werden in kürzester Zeit ganze Landstriche überflutet. Weil das Wasser nicht mehr in die Flüsse zurückströmen kann, können Millionen von Bauern ihre Felder nicht bestellen.

Die Menschen sind an Fluten gewöhnt. Viele Wohnhäuser sind auf Stelzen oder Erdwällen errichtet. In Bangladesch leben mehr als 2 Millionen Menschen auf sandigen Flussinseln, den so genannten Chars, die als Erste im Hochwasser versinken. Die „Char“-Bewohner bringen sich während der Flut in Sicherheit und besiedeln nach dem Monsun eine neue Flussinsel.

Seit der Unabhängigkeit 1971 hat Bangladesch mehr als die Hälfte seiner Wälder verloren. Auch an den Südhängen des Himalaja in Indien und Nepal wird der Wald, der früher einen Teil der Monsunregen absorbierte und an Bäche und Flüsse abgab, unkontrolliert vernichtet. Heute rauscht der Monsunguss über kahle Hänge zu Tal und verursacht gewaltige Überschwemmungen. Diese beeinträchtigen das Leben von immer mehr Menschen, denn das Bevölkerungswachstum zwingt viele, tief liegende Gebiete nahe der Flussläufe zu besiedeln. Zudem häufen sich auch in Südasien extreme Wetterlagen wie Stürme, Wolkenbrüche, Trockenheit – Folgen des globalen Klimawandels.

Die Erfahrung vergangener Jahre lehrt, dass die Katastrophe keineswegs mit dem Rückgang der Fluten endet. Millionen Menschen benötigen Unterstützung beim Aufbau einer neuen Existenz. Lebensmittelknappheit und verseuchtes Trinkwasser machen den Überlebenden zu schaffen. Zwar lassen die Niederschläge an den Oberläufen der Flüsse nach, doch die Regenzeit wird noch zwei weitere Monate anhalten.