Das wird ein ganz großes Ding

„Ein Mensch sollte darüber definiert werden, was ertut – über nichts anderes“

AUS BERLIN UND KÖLNKIRSTEN KÜPPERS

Man kann sagen, dass Gerda Fürch kein besonders gutes Leben mehr hat. Sie hat eine Wohnung, aber sie räumt nicht mehr auf. Sie ist ein bisschen einsam, sie hat zu wenig Geld. Die Tage fangen irgendwann an und hören erst auf, wenn die Zigarettenschachtel leer ist und im Fernsehen nur noch Talkshows wiederholt werden. Gegen die Depressionen nimmt Gerda Fürch Tabletten. Ohne würde es nicht mehr gehen, sagt sie. Trotzdem kommt manchmal die Niedergeschlagenheit. Dann bleibt Gerda Fürch im Zimmer, geht nicht mehr nach draußen, ruft niemanden an. Es ist eine graue Mutlosigkeit, die sie an den Rand drängt. Oft denkt sie, es wäre besser, ganz aus der Welt zu fallen. So erzählt es Gerda Fürch. „Ich bin eine kaputte Existenz“.

Das Unglück von Gerda Fürch hat mit ihrem Alter zu tun. Sie ist 59 jetzt. Das ist nicht besonders jung. Das ist nicht sehr alt. Das ist zu alt, um in diesem Land einen Job zu finden, hat Gerda Fürch festgestellt. Deswegen hat sie in Köln angerufen. Beim „Büro gegen Altersdiskriminierung“. Sie hat mit der Frau am Telefon gesprochen. Sie hat in den Hörer erzählt, was passiert ist.

Bis vor elf Jahren war Gerda Fürch Chefsekretärin in einer großen Firma in Berlin, eine gute Chefsekretärin, sie hat nicht schlecht verdient. Vielleicht wurde sie deswegen von den Kollegen gemobbt. Sie hat wegen des Mobbings einen Prozess geführt und gewonnen. Trotzdem hat sie danach keinen richtigen Arbeitsplatz mehr gefunden. Dabei hat sie es wirklich versucht. Sie hat über 300 Bewerbungen geschrieben, sie hat ihr Business-Englisch verbessert, sie hat überlegt umzuziehen, sogar nach Amerika, sie hat einen Computer gekauft, hat bei Unternehmensberatungen angerufen.

Weil es nichts genutzt hat, begann sie ihre Ansprüche herunterzuschrauben. Sie fing an Zeitungen auszutragen, Parfümflaschen auf dem Flohmarkt zu verkaufen, bemalte T-Shirts, sie jobbte als Komparsin beim Film. Es war zum Leben zu wenig. Auch mit einem Fahrradverleih hat sie es probiert. Es hat nicht funktioniert, hinterher war das Geld von der Lebensversicherung weg. Gerda Fürch musste von 700 Euro Berufsunfähigkeitsrente leben. Die Rente haben die Ärzte ihr bewilligt. Wegen der Depressionen, die sich in ihre Tage geschlichen hatten.

Inzwischen hat Gerda Fürch einen Minijob gefunden. Sie arbeitet jetzt als Empfangsdame in einem Altersheim, das sind noch einmal 300 Euro mehr. So dass man sich Erdbeeren leisten kann im Sommer oder ein Stück Käsekuchen im Café. Aber dass ein Mensch sich fühlen muss wie ein überflüssiges Stück Holz, nur weil die Gesellschaft denkt mit über 50 sei man zu alt für die moderne Arbeitswelt, „das ist doch unwürdig!“, findet Gerda Fürch. „Da läuft was falsch.“ Sie sitzt in ihrer Wohnung. Im Sessel, der neben dem Fernseher steht. Auf den Sesseln im Zimmer liegen Decken, damit man die zerschlissenen Polster nicht sieht. Gerda Fürch zieht an einer Zigarette. Sie raucht die Billigen vom Penny-Markt. Sie raucht, und sie hat einen Plan. Die Idee hat sie aus Köln bekommen.

Gerda Fürch will jetzt klagen. Sie will einen Prozess führen gegen den Staat. Ein ganz großes Ding. Sie will durchkämpfen, dass sie eine Entschädigung bekommt. Für die Zeit des Leidens, die Zeit der Arbeitslosigkeit. Der Prozess wird Aufsehen erregen. Gerda Fürch hat sich vorgenommen, die Erste zu sein. Die Erste, die in Deutschland das Antidiskriminierungsgesetz für alte Menschen durchsetzt. Es wird etwas Neues und Großartiges sein. Fürch zündet sich eine neue Zigarette an. Mit dem Plan kommt auch die Nervosität in die Wohnung. „Es wird nicht leicht“, sagt sie, die Stimme klingt ängstlich und rau.

Das Gesetz, das Diskriminierung wegen Alters unter Strafe stellen wird, gibt es in Deutschland noch nicht. Es gibt nur eine EU-Richtlinie und 95 Seiten Papier, die auf dem Schreibtisch der Familienministerin Renate Schmidt liegen. Sowohl die Richtlinie aus Brüssel als auch der Gesetzentwurf der deutschen Regierung verbieten neben der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, einer Behinderung, der Religion, der Weltanschauung, der Ethnie und der Rasse, auch die Diskriminierung aus Gründen des Alters in allen Bereichen, die mit Beschäftigung und Beruf zusammenhängen. Das Gesetz würde Gerda Fürch eventuell helfen. Sie könnte nicht den Staat verklagen, aber zumindest die Arbeitgeber, die jüngere Bewerber bevorzugen.

Gerda Fürch wartet darauf, es ist ihr egal, gegen wen sie prozessiert, sie will etwas tun. Aber die deutsche Regierung hat die Richtlinie aus Brüssel noch nicht umgesetzt, sie lässt die 95 Seiten auf dem Schreibtisch liegen, sie denkt, sie hat gerade Wichtigeres zu tun. Dabei ist die vorgeschriebene Frist für die Umsetzung schon vor einem Jahr abgelaufen.

Auch wenn das Gesetz noch fehlt, – die Diskriminierung der Alten ist längst da. Überall. Man muss nur Hanne Schweitzer vom „Büro gegen Altersdiskriminierung e.V.“ in Köln fragen. Bei ihr rufen sie ja jeden Tag an, die Unzufriedenen. Es sind Menschen wie Gerda Fürch aus Berlin, die sich melden.

Hanne Schweitzer steht in Badeschlappen, Jeans und Pullover in ihrer Küche und zählt die Fälle auf, die sie gehört hat am Telefon, auch aus der Zeitung hat sie Beispiele gesammelt. Bei den Stellenangeboten geht es los. Bei der Supermarktkette Lidl etwa, die nur Mitarbeiter bis maximal 30 sucht. Bei den Angeboten für Controller und Consultants, die auch mit Erfahrung keinesfalls älter als 35 sein dürfen. Bei der katholischen Telefonseelsorge, die ehrenamtliche Mitarbeiter will, die nicht älter als 63 sind.

Von einem Rentner weiß Hanne Schweitzer, der bei der Postbank keine Visa-Karte mehr bekommen hat. Von einem anderen Rentner, der bei Karstadt keinen Geschirrspülautomaten auf Raten kaufen durfte, obwohl er stets ein schuldenfreies Leben geführt hatte und ein Einfamilienhaus besitzt. Es gibt Menschen, die wegen ihres Alters nicht in gesetzliche Krankenkassen aufgenommen werden, erzählt Schweitzer. Über 80-Jährige würden im Krankenhaus oft weniger aufwändig behandelt als Jüngere. Ältere Krebspatienten, meint sie, erhielten vielfach keine Chemotherapie mehr. Es gibt Reiseveranstalter, die Seniorenzuschläge berechnen. In Köln fahren Straßenbahnen, in die ungelenkige Menschen nicht einsteigen können, weil die Stufen zu hoch sind.

Und dann sind da noch die Medien, sagt Schweitzer, die mit Überschriften hetzen wie: „Die Rentenreform – Wie die Alten die Jungen ausplündern“ oder „Wie das Böse ist der Rentner immer und überall“. Selbst über Thomas Gottschalk regt sich Hanne Schweitzer auf. Gottschalk hat neulich gesagt: „Unser ZDF-Kernpublikum hat teilweise noch Telefon mit Wählscheibe.“

Hanne Schweitzer holt Luft. „Weil wir alle zu alt sind, bekommen wir keine Arbeit“, erklärt sie. Ihr eigenes Alter will sie nicht verraten. Eine zierliche Frau mit blond gefärbten Haaren und listigen Augen. „Ein Mensch sollte darüber definiert werden, was er tut, – über nichts anderes“, findet Schweitzer, sie schiebt mit dem Knie die Tür vom Kühlschrank zu. Vor fünf Jahren hat Schweitzer das „Büro gegen Altersdiskriminierung e.V.“ gegründet.

„Dass ein Mensch über 50 sich überflüssig fühlen muss, ist doch unwürdig“

Weil sie kein Geld hat, zusätzliche Räume zu mieten, betreibt sie das Büro in ihrer Wohnung. Neben dem Kühlschrank steht das Sofa, hinter dem Sofa steht der Schreibtisch. Es gibt kein extra Vereinstelefon, der Computer ist geliehen. An der Tür hängt eine abgewetzte Lederjacke. Und an der Jacke kann man schon erkennen, wo bei Hanne Schweitzer die Motivation herkommt. Wenn man schon in den 60er-Jahren demonstrieren war und später gegen Atomkraft aus die Straße lief. Wenn man immer noch selbst gedrehte Zigaretten raucht, enge Jeans trägt und in Dortmund Politik und Soziologie studiert, dann fällt es schwer, sich abzufinden mit dem Leben, das dieses Land für ältere Menschen bereit hält: mit der erzwungenen Untätigkeit in beige farbenen Blousons und flachen Sandalen, dem Dasein zwischen Fernseher und Couchgarnitur, den Kaffeefahrten ins Erzgebirge.

Hanne Schweitzer guckt lieber nach Amerika, wo ja immer alles viel fortschrittlicher zu sein scheint als hierzulande. Ein Land, bei dem sie sich jetzt zurücklehnt im Stuhl. In den USA gibt es schon seit 1967 ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz. Eines wie Hanne Schweitzer es will. Es schreibt vor, dass bei Bewerbungsverfahren nicht nach Alter und Rasse gefragt werden darf.

In Amerika haben alte Menschen eine Lobby. Und wenn es stimmt, was Hanne Schweitzer sagt, dann scheint ohne den Segen der Alten dort gar nichts mehr zu funktionieren. 1984 wurde der Zwangsruhestand abgeschafft. Seither dürfen 70-Jährige Elektriker werden, 100-Jährige arbeiten als Barkeeper. „Und wenn in Kalifornien eine 80-Jährige auf einer Harley vorbeifährt, guckt auch keiner blöd“, sagt Hanne Schweitzer. Sie lacht, in einem Zimmer in Köln, in der wirklichen Welt.

Eine Lobby will Schweitzer mit ihrem Verein in Deutschland auch aufbauen. Die Stimme wird lauter. Sie will, dass die Politiker endlich die 95 Seiten in die Hand nehmen, dass es endlich losgeht mit dem Gesetz. Sie möchte, dass man künftig klagen kann gegen Arbeitgeber. Aber das reicht Hanne Schweitzer nicht. Sie will ein Antidiskriminierungsgesetz, dass für alle Bereiche des Lebens gilt. Auf der Straße, genauso wie im Krankenhaus oder im Supermarkt. In Irland, Belgien, Kanada, Finnland und Großbritannien haben sie schon ähnliche Gesetze. Hanne Schweitzer redet vom „Bewusstsein, das bei uns fehlt“. Von der „untätigen Bundesregierung“. Es gibt eine breite Schwerfälligkeit in diesem Land. Rund 300 Mitglieder hat Schweitzers Verein jetzt. Das ist nicht so viel wie der ADAC. Das ist immerhin ein Anfang. Deshalb kopiert Schweitzer Flugblätter, schreibt Briefe an Politiker, hört sich die Klagen der Leute an, die jeden Tag bei ihr anrufen.

Es ist keine Armee von Senioren, die sich da formiert. Die Anrufer haben zunächst nur gemeinsam, dass sie in Deutschland leben und sich über schlechte Behandlung beschweren: Der 36-jährige Doktorand, der keinen Job findet. Die Frau, die sich bei einer Wohnungsbesichtigung vom Vermieter anhören musste: „Was wollen sie denn umziehen? Sie sterben doch sowieso bald.“ Die Nachbarin auf derselben Straßenseite, die sich aus Wut über die Gesundheitsreform die täglichen drei Schachteln R 6 abgewöhnt hat und jetzt hinter den Gardinen ihres Wohnzimmers sitzt. Es riecht nach Mittagessen, und sie schnaubt: „Ich will mit der Tabaksteuer dieses Abzockersystem nicht mehr finanzieren! Es kotzt einen an!“

Oder Gerda Fürch in Berlin. Die in einer etwas unaufgeräumten Wohnung darauf wartet, dass ein Gesetz kommt. Dass es schneller ist als die Depressionen. Dass sie mit dem Gesetz vor Gericht ziehen kann. Dass man sich morgens einreden kann, dass es eine Aufgabe gibt und dass es wieder losgeht mit einem besseren Leben.