Die Gespenster der Geschichte

Wie dem gern und oft als „deutsch-deutschen Schriftsteller“ apostrophierten Uwe Johnson, der die Vertreibung der Juden aus dem deutschen Alltag so eindrücklich nachdichtete, die passenden Worte zu der Jüdin Hannah Arendt versagten: der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Uwe Johnson

VON MARIE LUISE KNOTT

„Aber bitte schön, zur Gräfin machen Sie mich nicht. Bis Sie so was dürfen, müssen Sie noch viele reizende Briefe schreiben.“ Diesen Zeilen der Philosophin Hannah Arendt an den Schriftsteller Uwe Johnson im Jahr 1968 war eine handfeste Auseinandersetzung vorausgegangen: Uwe Johnson hatte in einem Vorabdruck seiner „Jahrestage“ ausgerechnet Hannah Arendt mit ihrem richtigen Namen genannt. Dabei basiert ihre politische Theorie wie kaum eine auf der genauen Unterscheidung, ja Trennung von privatem und öffentlichem Raum, und sie war es, die niemals im Fernsehen auftreten wollte, aus Angst danach auf der Straße erkannt zu werden. „Bitte keine Namen, dagegen bin ich allergisch“, hatte sie ihm geschrieben, woraufhin Johnson ihr in einem ironisch demütigen, sprachlich äußerst ausgefeilten Entschuldigungsbrief mitteilte, er habe sie umbenannt. Der neue Name „Gräfin Seydlitz“ war nicht gerade feinfühlig: Ein preußischer Kavalleriegeneral als Namensgeber konnte eine aus Deutschland geflohene Jüdin nicht entzücken.

Diese kleine Episode ist nachzulesen in dem dieses Frühjahr im Suhrkamp-Verlag erschienen Briefwechsel zwischen Arendt und Johnson, der 1968 nach einem New-York-Aufenthalt Uwe Johnsons begann und bis zu ihrem Tode 1975 währte. Die Beziehung ist zuallererst geprägt durch den Altersunterschied: Arendt war zu Beginn des Briefwechsels 62 Jahre alt, Uwe Johnson 33 Jahre. Sie, die Grande Dame, gibt die Regeln vor („Bis Sie so was dürfen“); er, der Verfasser von Meisterwerken (so Arendt), geriert sich mit viel Selbstironie als wissbegieriger Junge, der der Zu- und Fürsprache bedarf („Bis zum nächsten Mal werde ich auf das Gehorsamste scharf nachdenken“, schreibt er ihr einmal).

Wie die Herausgeber Eberhard Falke und Thomas Wild betonen, dürfte das Gespräch das eigentliche Elixier dieser Beziehung gewesen sein. Doch anders als bei den bislang bekannten Briefwechseln von Hannah Arendt findet sich in den Briefen nur wenig Fortführung der Gespräche. Sie sind äußerst witzig, voller Situationskomik und insofern oftmals sehr kurzweilig zu lesen. Doch von Arendts Seite aus sind sie erstaunlich gehaltlos. Das, was ihre übrigen Briefwechsel (mit Heinrich Blücher, Karl Jaspers, Martin Heidegger oder auch Mary McCarthy) auszeichnet, fehlt hier fast gänzlich. Man liest kaum ein Wort über ihre Arbeit, kaum eine politische Beobachtung. Es ist, als habe sie ihn ansprechen, aber sich ihm nicht anvertrauen können.

Die gemeinsame Welt zwischen diesen beiden Schreibenden, war, das spürt man in den Briefen, die – deutsche – Sprache und Kultur, die Arendt im fernen New York insbesondere nach dem Tode ihres Mannes Heinrich Blücher (1970) sehr vermisst haben dürfte. Wahrscheinlich hat sie es sehr genossen, als Johnson 1971 in ihrer Wohnung eine Woche zu Gast war. Denn die deutsche Sprache war für Hannah Arendt auch nach 30 Jahren noch Teil der „portablen Heimat“ (Heine).

Doch diese gemeinsame Welt, die im Gespräch sehr lebendig gewesen sein dürfte, ist im Briefwechsel „gestört“. Möglicherweise hatte dies mit der eingangs erwähnten Spannung zu tun. Uwe Johnson hat in seiner Prosa Realität und Fiktion auf eine besondere Weise miteinander verschmolzen. Dadurch gelang es ihm, der Wirklichkeit andere Möglichkeiten zur Seite zu stellen und die Enge der Wirklichkeit durch fantastische Hinzudichtungen zu erweitern. Es gehörte also zu Johnsons Arbeitsweise, realen Geschehnissen fiktive Elemente (etwa unterstellte Zitate) beizugesellen und umgekehrt. Dabei überschritt er bewusst auch die Grenze zum Privaten. Mehrfach hat er die New Yorker Lebenswelt Arendts zum Gegenstand seiner Prosa gemacht (was die Herausgeber minutiös dokumentieren).

Doch Hannah Arendt dürfte das (siehe die Gräfin-Geschichte) nur begrenzt geheuer gewesen sein, und seinen Wunsch, einen biografischen Essay über sie schreiben zu dürfen, hat sie ihm verwehrt.

Doch bei der Begegnung eines im Nazideutschland aufgewachsenen deutsch-deutschen Schriftstellers mit einer vor den Nazis aus Deutschland vertriebenen (und geflohenen) deutsch-jüdischen Philosophin versuchen diverse Gespenster ihr Unwesen zu treiben. Eines der größten Gespenster ist, verallgemeinert gesprochen, die „Judenfrage“. „Im Übrigen scheint es Ihnen nicht aufgefallen zu sein, dass ich Jüdin bin“, schreibt Arendt an Johnson im Zusammenhang mit der Seydlitz-Debatte. Dieser Satz muss ihn erreicht haben, denn im Nachruf auf Hannah Arendt berichtet er: „Einmal hat sie mich ausdrücklich hinweisen müssen auf den Umstand, dass sie Jüdin ist.“ Und fährt fort: „Im Umgang mit ihr war es zu vergessen.“ In diesem kleinen Satz spukt das Dilemma, das Hannah Arendt auf ihren Deutschlandreisen immer wieder antraf: Sie hatte immer darauf bestanden, gerade in Deutschland und unter Deutschen nur sein zu können, „wenn man als Jüdin willkommen ist“.

Hierzulande aber wollte man (und offensichtlich auch Uwe Johnson) zuallererst „vergessen“, dass Juden anders, also kenntlich sind, weil ein von Nazis oktroyiertes, fiktives „Anders-Sein“ der Anfang vom Ende (der Vernichtung) gewesen war.

Eines der kleinen wiederkehrenden Themen im Briefwechsel handelt von Blumen und Vasen und davon, dass Johnson ihr einmal Blumen mitbringt, aber es sind die falschen; ein andermal bringt er ihr passende Blumen mit, aber Arendt hat keine passende Vase dafür. Äußerst beredt erzählt diese Geschichte von den Mühen der Harmonie in der Beziehung. Doch es mutet schon tragisch an, dass ausgerechnet dem Schriftsteller Uwe Johnson, der die Vertreibung der Juden aus dem deutschen Alltag so eindrücklich nachdichtete, die passenden Worte zur Jüdin Hannah Arendt versagten.

„Hannah Arendt, Uwe Johnson: Der Briefwechsel“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 342 Seiten, 18,90 €