Der Lauf des Lebens

Ohne Punkt, ohne Abschluss, aber voller Hoffnung: „Jessica, 30“ von Marlene Streeruwitz

Als in Österreich vor vier Jahren die Koalition aus ÖVP und FPÖ an die Macht kam, zog jeden Donnerstagabend eine Gruppe von Menschen durch die Wiener Innenstadt als Protest gegen die neue Regierung. Die Routen waren nie genau festgelegt, und viele schlossen sich einfach irgendwo auf dem Weg an.

Marlene Streeruwitz war eine der Demonstrantinnen. Für sie waren diese „Wiener Wandertage“ ein klares Statement gegen Rassismus, das jede und jeder ablegte, im Mitgehen. Jeder für sich, ohne die typische Demomusik, ohne skandierende Parolen. Ihre Forderung nach einer neuen Poetik des Politischen, die unter anderem eine gewaltfreie Bewegung ohne Massenzwang bedeutet, schien sich in den Abendspaziergängen verwirklicht zu haben. Ein klares Zeichen gegen prekäre Machtverhältnisse und politische Missstände setzt Marlene Streeruwitz auch mit ihrem neuen Roman „Jessica, 30“. Jessica, Journalistin, ist bereits mit 30 Jahren müde von ihrem noch so jungen Leben: Eine unglückliche Beziehung mit dem Staatssekretär, Gewissensbisse nach nächtlichen Fressanfällen, ein zerfallender Freundeskreis und die berufliche Erfolglosigkeit machen ihr zu schaffen. Die Erzählung beginnt mit einem morgendlichen Lauf. Um den lähmenden Sog der spießigen österreichischen Lebenskultur zu entkommen, joggt sie die Praterhauptallee entlang.

Wie eine durchgehende Bewegung ist auch der Sprachstil in „Jessica, 30“: Marlene Streeruwitz hat eine einzige lange Satzschlange produziert, die weder Jessica noch den Leser zur Ruhe kommen lässt. Eine Atemlosigkeit, die Hektik und Flucht gleichermaßen ausdrückt. Jessica ergeht sich permanent in ihrem Leben, ein Gedanke führt sie zum nächsten. Sie stellt Mutmaßungen über die Fernsehserie „Ally McBeal“ an, über die Beziehung der geschiedenen Eltern und österreichischer Politiker, sie denkt nach über das Wetter, über Sex oder über Projekte, die sie der Chefredakteurin vorschlagen könnte. Irgendwie hängt in Jessicas Universum alles mit allem zusammen.

Der innere Monolog ohne Punkt, ohne Abschluss, schafft eine Figur, die weder der Autorin noch dem Leser gehört. Sie steht genau dazwischen, sie spricht zu sich selbst, sie reflektiert ihr Leben. Aber wirklich bei sich scheint sie nie zu sein. Zu sehr ist sie damit beschäftigt, wie die anderen sie sehen könnten, und zu bedingungslos scheint die Gesellschaft für sie: „… und jeder hat eine Chance und wenn man will, dann schafft man es, und ich war eben nicht hart genug, und die Zeit in New York, die habe ich richtig vertan, da waren die zähen kleinen Mädchen besser als ich, und ich bin immer noch dagesessen und habe Kaffee getrunken …“

Als Jessica einen Skandal um den Staatssekretär aufdecken soll, der auch ihr Geliebter gewesen ist, sieht sie darin die Chance für eine kleine persönliche Rache an ihm – und vielleicht auch an der von Vetternwirtschaft dominierten österreichischen Politik. Streeruwitz’ Erzählung ist politisch im Privaten, fortlaufend, ohne Ende und gerade deshalb hoffnungsvoll. ANDREA ERDINGER

Marlene Streeruwitz: „Jessica, 30“. Fischer Verlag, Frankfurt 2004, 230 Seiten, 18,90 Euro