Schön wie nie

Lebensstandort Deutschland (1): Manche Krisen haben positive Auswirkungen – hoch im Norden, am Westensee

Wenn man in Schleswig-Holstein das Dorf Hohenhude durchfährt, wird man hinter dem Ortsschild auf ein ziemliches Gefälle stoßen. Die Straße führt steil nach unten, beschreibt zudem zunächst eine Links-, dann eine Rechtskurve und führt in den Wald hinein. Nach wenigen hundert Metern kommt man an eine einfache Badestelle, nur eine Wiese, ein Schild mit Rettungshinweisen und ein kurzer Holzsteg, von dem aus man in den Westensee springen kann, den größten See Schleswig-Holsteins.

Diese Badestelle kenne ich, seit ich fünf Jahre alt bin. Als Kind habe ich mich hier in ein Schlauchboot gesetzt und von Seeschlachten geträumt. Als Jugendlicher habe ich die eine oder andere geleerte Bierdose ins Gebüsch geworfen, was ich von heute aus natürlich verurteile. Einige Jahre später konnte ich eine junge Frau überzeugen, sich auf den Beifahrersitz meines ersten Autos zu setzen und von hier aus nachts in den See zu springen. Wenn ich in der Gegend bin, besuche ich immer noch jedes Mal diese Badestelle, um über das Wasser zu gucken. Und ich muss feststellen: Diese Badestelle hat sich in den vergangenen 35 Jahren durchaus antizyklisch zum Krisengerede und zur Abstiegsangst in Deutschland verhalten. Ständig stiegen die Arbeitslosenzahlen, immer mehr Krisen (Autoindustrie, Gesundheitssystem, Rentensystem etc. etc.) wurden diagnostiziert – aber diese Badestelle ist jedes Jahr ein bisschen schöner geworden.

Der Grund ist ganz einfach: Die Landwirtschaft in Schleswig-Holstein ist auch in der Krise. Und diese Krise ist gut für diese Badestelle. Früher stank es spätestens ab Spätsommer fürchterlich, weil die umliegenden Bauern alles, was flüssig war, in den See leiteten. So etwas nennt man Überdüngung. Kläranlagen gab es keine. Heute bekommen die Bauern Geld aus Brüssel, damit sie nicht mehr so viel produzieren wie früher. Viele Bauernhöfe wurden gleich zu Reiterhöfen umgebaut. Das, was früher Scheunen waren, sind nun Wochenendhäuser. Und am Westensee sind heute wieder Kormorane zu beobachten.

Der Natur in Schleswig-Holstein hat die Umstellung von Landwirtschaft auf Tourismus insgesamt gut getan. Die Kieler Nachrichten meldeten vor einigen Wochen erstaunlich viele Seeadler-Eier. In der Nordsee tummeln sich inzwischen dreimal so viele Seehunde wie vor 25 Jahren. Anhänger eines guten Lebens können sich also sehr nett und naturnah einrichten in Schleswig-Holstein. Und an die paar Tiefflieger der Bundeswehr, die dann und wann die Idylle stören, gewöhnt man sich schnell.

Nur etwas kann man hoch im Norden nicht so gut: Geld verdienen. Die Warenströme nach Skandinavien laufen nicht mehr über Kiel. Die Bundeswehr lässt alle Standorte schrumpfen. Und es können ja nun nicht alle Menschen Lehrer oder Reiterhofbesitzer sein.

Es sind also gegenläufige Bewegungen zu beobachten. Wirtschaftsmäßig geht es steil bergab. Lebensstandardmäßig geht es nach oben. Man kann in Schleswig-Holstein jetzt, in unseren postindustriellen Zeiten so leben, wie die Fernsehwerbung es gerne von vorindustriellen Zeiten behauptet: unentfremdet, im Einklang mit Landschaft und Natur. Und alles wird sogar noch viel besser werden. Auch in Schleswig-Holstein wird die Bevölkerung schrumpfen. Bald gibt es hier noch mehr Platz für Mensch und Tier!

Wie auch in den Kieler Nachrichten stand, überlegen viele Manager und andere Besserverdienende, ihren Lebensabend zwischen Nord- und Ostsee zu verbringen. Möglicherweise sieht ein typischer Lebensentwurf bald so aus: Bis 60 in München oder Stuttgart malochen. Wenn die Pension gesichert ist, nach Norden ziehen. Wir sehen uns dann vielleicht, an der Badestelle. DIRK KNIPPHALS