Der ständige Zeuge

Zwischen Macht und Aufklärung, Geld und Moral, Hirn und Herz und fast immer jenseits von gut und böse: Unter dem Titel „Newsfront“ beschäftigt sich die Retrospektive des Internationalen Filmfestivals von Locarno in diesem Jahr mit Reporterfilmen

„Der Journalist ist ein Krieger ohne Rüstung, ein Held ohne Tugend, ein Durchschnittsmann mit einer überdurchschnittlichen Berufung“

VON VERONICA RALL

Kein Zweifel, das Kino hat ihn geliebt, den rasenden Reporter, den Journalisten in Hemdsärmeln –das Bild, das Hollywood in den Dreißigerjahren von ihm prägte, kann man im Traum abrufen: Das zerknautschte Jackett zieht er nur eilig beim Sprung auf die Straße an, sein stets verbeulter Hut sitzt schräg auf dem Kopf. Auf eine Krawatte kann er sowieso verzichten, nicht aber auf die Zigarette und nur selten auf den Alkohol. Oft muss man ihn zum Einsatz aus irgendeiner schäbigen Bar holen, der Kater steht ihm den ganzen Film durch im zerknitterten Gesicht geschrieben. Äußerlich keiner sozialen Schicht zugehörig, kann der Journalist sich in den vornehmsten Kreisen und unter Arbeitern, unter Tagedieben und Gaunern bewegen – und bleibt doch ein einsamer Wolf. Nie verheiratet (wenn auch manchmal verliebt), lebt er im Dschungel der Großstadt, für ein Provinzblatt arbeiten zu müssen, ist ihm eine ständige Drohung.

Seine Welt ist die Moderne, und es ist kein Zufall, dass auch Frauen zu dieser professionellen Zugang haben: In „Woman of the Year“ (1942) darf sich das Liebespaar Katharine Hepburn und Spencer Tracy in einer Redaktion streiten, in „His Girl Friday“ (1940) ruiniert Gary Grant als Chefredaktor die beabsichtigte Heirat seiner besten Reporterin Hildy Johnson (Rosalind Russell) mit einem Versicherungsagenten. Stets flott in Hütchen und Kostüm gekleidet, stehen sie ihren männlichen Kollegen in nichts nach, geben sich offen als Feministinnen und haben gelegentlich sogar die bessere Spürnase: unentwegt auf der Suche nach einer Wahrheit, die man abbilden, zeigen und erzählen kann.

Diese Nase für Geschichten hat die JournalistInnen als narrative Figuren fürs Kino ebenso brauchbar gemacht wie ihre Alter Egos, die PrivatschnüfflerInnen. „Der Reporter“, schreibt Giorgio Gosetti in seinem hellsichtigen Aufsatz „The Impure Eye“, „ist der ständige Zeuge. Er ist Protagonist dessen, was er sieht, und nicht dessen, was er tut. Er ist der perfekte gewöhnliche Mann der Massengesellschaft, aber er lebt, ohne sich jemals in der Grauzone der Angestelltenwelt zu verlieren. Er ist Mitglied einer Schicht, die einerseits exklusiv ist und der man andererseits durch Verdienst (nicht durch Reichtum oder Familie) beitreten kann. Der Journalist ist ein Krieger ohne Rüstung, ein Held ohne Tugend, ein Durchschnittsmann, der einer überdurchschnittlichen Berufung folgt.“

Diese heldenhafte Geschichte von der Presse als vierter gesellschaftlicher Macht hat nicht nur Hollywood fasziniert – die Retrospektive in Locarno, „Newsfront“, findet Beispiele aus zahlreichen Filmkulturen – aber nur in den USA bildet sich etwas wie ein Genre schon in den Dreißigerjahren. Hier retten Reporter Unschuldige vor dem elektrischen Stuhl (so unter anderem in „The Front Page“, Lewis Milestone 1931; „His Girl Friday“, Howard Hawks 1940; „True Crime“, Clint Eastwood 1999), die Politik und ihre Protagonisten werden geprüft („All the President’s Men“, Alan J. Pakula 1976, „Roger & Me“, Michael Moore 1989) und die Außenpolitik kritisiert („The Quiet American“, Joseph L. Mankiewicz 1958; „The Year of Living Dangerously“, Peter Weir 1982). Die Reporter und Reporterinnen sind heroisch, entsprechend werden sie mit Prototypen blauäugiger SchauspielerInnen besetzt: Wer wollte sich Pakulas Drama um Watergate anschauen, spielte nicht Robert Redford? Wer Weirs Geschichte um den Sturz des indonesischen Diktators Suharto, gäbe nicht Mel Gibson den amerikanischen Journalisten? Wer „The China Syndrome“ (1979), recherchierte nicht Jane Fonda?

Die investigative Journalistin und der neugierige Zeitungsmann sind die logische Figuren des american dream – die Welt lässt sich nicht nur beobachten, sie ist durch jeden von uns veränderbar – gleichwohl ist das Reporter-Movie keineswegs nur ein HeldInnengenre. Denn anders als in den Detektivfilmen, wo die Spürnasen zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Gut und Böse unterscheiden können und in den Gesetzen ein klares Bezugssystem finden, stehen ReporterInnen dem diffusen Feld der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber. Hier ist die Wahrheit nicht immer gut und die Lüge nicht immer böse. John Wayne muss als Sportreporter in „The Rookie of the Year“ (John Ford, 1955) erkennen, dass seine große Story – der junge Star des Baseball ist der Sohn eines straffällig gewordenen Altmeisters – unter Insidern bereits bekannt ist und aus guten Gründen geheimgehalten wird. In Alfred Hitchcocks „The Foreign Correspondent“ (1940) will der frisch gebackene Auslandskorrespondent die Geschichte um einen deutsch-amerikanischen Doppelagenten nicht publizieren, weil der Mann der Vater seiner Geliebten ist. Nur ihr Mut und ihr Wille zur Wahrheit retten ihm den Job.

Aber nicht nur das gute Gewissen lässt die ReporterInnen an Storys zweifeln, häufig sind sie zwischen Macht und Aufklärung, Geld und Moral, Hirn und Herz hin und her gerissen. Fast von Beginn an und quer durch alle Kontinente entwerfen Reporterfilme korrupte, zweifelhafte, ohnmächtige Figuren, die entweder triumphierend Karriere machen oder sich verzweifelt aus dem Business an den Kneipentisch zurückziehen. Das Meisterstück filmischer Reflexion über die Medienwelt aber bleibt Orson Welles’ „Citizen Kane“ (1941), der gleichzeitig die Funktion des Kinos darin bedenkt: Welles lässt den Journalisten Jedediah Leland (Joseph Cotten) die Biografie des Zeitungsmagnaten Charles Foster Kane recherchieren, in Wochenschauen und persönlichen Rückblicken eröffnet sich das Bild eines rücksichtslosen Herrschers über ein Imperium. Unter erheblichen Schwierigkeiten gelangte „Citizen Kane“ in die Kinos, Hearst allerdings (dem es als Miteigentümer der Produktionsfirma RKO Pictures nicht gelungen war, den Welles zu stoppen) ließ seinen gesamten Presseapparat darauf los: Der Film wurde finanziell ein massiver Flop, gleichwohl erzählt seine Rezeptionsgeschichte auch von dem Erfolg der Gegenöffentlichkeit „Kino“.

„Citizen Kane“ gab Welles nicht nur die Gelegenheit zur scharfen Kritik an dem kalifornischen Medienmagnaten William Randolph Hearst (der das Vorbild für Kane abgab), sondern gleichzeitig die Möglichkeit, sich vielschichtig mit den Medien auseinander zu setzen. Zunächst spielt er eine Wochenschau ein, die den Verstorbenen schlicht als bedeutenden Mann zeichnet, um dann in zahlreichen Rückblenden genau dieses Bild zu demontieren. Bewusst lässt Welles im Prozess der Recherche Risse entstehen: „ ‚Citizen Kane’ ist ein grandioser Film der Moderne, weil er das Geheimnis (das entdeckt werden kann und muss) und das Rätsel (das eine Lösung fordert) durch das Mysterium ersetzt“, schreibt Michel Frodon in seinem Essay „F for Kane: The Infinite Quest for Truth“. „Im klassischen Sinn dieses Wortes schwingen die Konnotationen des Unsichtbaren, des Unerklärlichen mit, es bezeichnet die Differenzen zwischen analysierbaren Bedingungen des Realen, die Zerrissenheit zwischen Individuen und die in ihnen selbst. Es geht dann nicht länger darum, die Lücken zu füllen, sondern darum, sie wahrzunehmen, darum, jedem Individuum anzubieten, seine eigene Position in der Gesellschaft zu konstruieren. Genau darin zeigt sich die Unvereinbarkeit zwischen Film und Medien.“

War diese Unentscheidbarkeit möglicherweise die zentrale Kraft des Reporter-Movies, durfte es nur selten Reflexionen über das diffuse Reich der Zeichen anstrengen, um so real wie gegenwärtig eine Öffentlichkeit jenseits der Medienmonopole zu mobilisieren. Davon zeugen insbesondere Kinoproduktionen seit Ende der Achtzigerjahre, die sich selbst weniger als Kunst denn als journalistische Interventionen verstehen. Als Erster trat Errol Morris 1988 mit der Semidokumentation „The Thin Blue Line“ an, er interessierte sich für einen Mord an einem Polizisten, für den ein Mann bereits zum Tode verurteilt wurde. In einer akribischen Recherche, die jede Zeugenaussage am realen Tatort fiktiv nachspielt, gelang es ihm, die Unschuld des Verurteilten zu beweisen. Noch in diesem Jahr kommt eine weitere Dokumentation von Morris, „Fog of War“, in die internationale Kinoauswertung, er hat den ehemaligen Außenminister der USA, Frank McNamara, aus seiner Biografie erzählen lassen, die amerikanische Presse bezeichnet den Film als Sensation.

Aus dem Jahr 1989 stammt Michael Moores Filmdebüt, „Roger & Me“. Für diese Suche nach dem CEO von General Motors musste Moore einen Kredit auf sein Haus aufnehmen. Es sollte (anders als die Kritik von Welles an dem Zeitungsmagnaten) einer der auch finanziell erfolgreichsten Dokumentarfilme aller Zeiten werden. Inzwischen ein Multimillionär, hat Moore mit „Fahrenheit 9/11“ nun zum Generalangriff gegen George W. Bush geblasen– während zwei seiner Kollegen, Nick Perry und Harry Thomason, in „The Hunting of the President“ die beispiellose Hetzkampagne gegen den ehemaligen Präsidenten Bill Clinton nachzeichnen, die, so die Washington Post, „uns an die glücklichen Tage erinnert, als wir uns nur um den Hosenlatz des Präsidenten sorgen mussten“.

Die Themen sind variabel, aber der Eindruck sitzt: Hier sind sie wieder, die rasenden Reporter in hochgekrempelten Hemdsärmeln. Ihre Hände kleben nicht mehr vor Druckerschwärze und riechen nicht mehr nach Rauch. Auf dem Kopf tragen sie nur noch Baseballkappen, und den Anzug haben sie gegen T- und Sweatshirt eingetauscht. Niemand braucht sie aus Spelunken zu zerren, sie sind technisch versiert, aktiv und clean. Sie drehen mit kleinen, mobilen HD-Kameras, und ihre Filme sind nicht für die Ewigkeit, nicht für die Filmgeschichte gedacht. Es sind Partisanenfilme für das Hier und das Jetzt, die an den Massenmedien vorbei auf Festivals und bei den Oscar-Verleihungen für Standingovations sorgen und deshalb ebenfalls wieder die Massen in den Kinos erreichen. Sie brauchen den rasenden Reporter auf der Leinwand nicht mehr, um seine Geschichte zu erzählen: Sie erzählen ihre eigene. Sie sind engagiert und wahrheitsliebend.

Aber möglicherweise auch selbstherrlich und korrupt: „Wenn ich mich entscheide, einen Film zu drehen, frage ich mich als Erstes: Wie kann ich einen guten Film machen? Ich finde, man erweist der Politik keinen guten Dienst, wenn man sie vor die Kunst stellt“, bekennt Michael Moore. „Aber ich hoffe, die Leute werden sich ‚Fahrenheit 9/11‘ anschauen und diesen Bastard aus dem Amt schmeißen. Mein Mantra im Schneideraum war: Wir müssen einen Film machen, der die Leute dazu bewegt, auf dem Weg aus dem Kino die Platzanweiser zu fragen, ob sie Fackeln haben!“

„Newsfront“. Retrospektive des 57. Internationalen Filmfestivals Locarno bis 14. August.Alle Zitate sind der Publikation zur Retrospektive entnommen: „Print the Legend: Cinema and Journalism“. Hrg. vom Internationalen Filmfestival Locarno und den Cahiers du Cinéma, 2004