Auf zwei Rädern durch die Krise

Das Klapprad ist zurückgekehrt – als Statussymbol verarmter Großstadt-Hedonisten. Das Relikt aus den Siebzigern trägt gerade wegen seiner Konstruktionsmängel perfekt durch die Sommer der Krise. Wer noch etwas erreichen will, muss eben Opfer bringen

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Großstädtische Flaneure haben einen neuen Begleiter. Eine graue Maus noch bis vor kurzem, eine graue Maus in Gelb oder Orange. Nicht immer ganz zuverlässig, aber offensichtlich auch dafür geliebt. Dafür, dass schon einmal ein Reifen von der Felge springen kann. Mitten auf dem Alexanderplatz. Mitten im Berufsverkehr. Die urbanen Flaneure – am schönsten zu beobachten in Berlin – flanieren in diesem Sommer auf kleinem Fuß.

Das Klapprad ist daran schuld. Zurückgekehrt aus den Archiven der Konsumgesellschaft. Angekommen in einem Milieu, das mit einem seismografischen Gespür auf Trends und Moden reagiert. Zumal wenn sich diese mit dem Präfix „retro“ koppeln lassen, dem Geruch von Gestern. In diesem Frühjahr hat sich die Klappraddichte in Prenzlauer Berg verdoppelt – die gefühlte wenigstens. Auch die 22-jährige Alena und ihre Freundin Ruth sind auf einem Flohmarkt in Friedrichshain fündig geworden. Schätzen „den gemütlichen Fahrstil“ und „das Sehen und Gesehenwerden“. Auf dem Klapprad fühlt man sich in diesem Sommer als kleiner Teil eines großen Ganzen. Wenn auch vielleicht nur für eine Saison.

„Kultur schlägt alles mit Ähnlichkeit“, so formulierten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Matrix der industrialisierten Massenkultur in ihrer „Dialektik der Aufklärung“. Aber schlägt Kultur nicht längst alles mit (symbolischer) Differenz? Und sind es nicht gerade solch symbolische Differenzen, auf denen die Szenegänger und Lebensstil-Distinktionisten in diesem Sommer durch ihren Kiez radeln? Und auf der Hompage www.klapprad.de ein gemeinsames Forum finden?

Dass sich auf einem Klapprad mit seinen 16-, vielleicht auch mal 20-Zoll-Reifen dabei kaum Meter machen lassen, fundamentiert nur den eigenen Exklusivitätsanspruch. Gerade die berechtigten Einwände gegen seinen Nutzwert als zügiges Fortbewegungsmittel qualifizieren das Klapprad ja für jene metaphorischen Wegstrecken, die zurückzulegen seine eigentliche Aufgabe ist. Damit gleicht das Klapprad quasi den tiefstgelegten Golfs und Dreier-BMWs, die an jeder Bodenwelle und jeder Bordsteinkante scheitern. Und genau deshalb zum stolzen Selbstbekenntnis ihrer Lenker taugen. Wer wirklich etwas will, muss eben bereit sein, Opfer zu bringen. Cityrad mit Niedrigeinstieg und Fahrradhelm taugen allenfalls für die Fahrt zur Kita oder zum Wochenmarkt. Aber auch das sind ja Chiffren eines Lebensstils, der wiederum seine eigenen Statussymbole hervorbringt.

Das Klapprad ist der Gefährte einer Generation, die schmerzlich begreifen musste, dass der eigene Hedonismus nicht ohne eine gewisse Portion Selbstironie aufrechtzerhalten ist. Eine Selbstironie, die hin und wieder auch der Kontoauszugsdrucker diktiert. Zwar wurden vereinzelte Exemplare im Zuge des allgemeinen Trainingsjacken- und Pril-Blumen-Revivals bereits gegen Ende des vergangenen Jahrtausends an Laternenpfählen gesichtet. Nur lax gesichert von einem dieser dürren Kabelschlösser mit drei- oder vierstelliger Zahlenkombination.

Zum massenhaften Phänomen wurde das Klapprad aber gerade in diesen Sommern der Krise, die ja auch und mit voller Wucht die nischenökonomischen Erwerbsmodelle zwischen Studentenjobs, Praktika und freischaffendem Goldgräbertum getroffen hat. Ein passabel erhaltenes Klapprad ist auch nach seiner Stilisierung zum Trenddrahtesel noch für gut 50 Euro zu haben. Wenngleich ein Gebrauchtfahrradladen in Berlin-Kreuzberg für ein immerhin goldfarbenes Exemplar mit fast schon exzentrischer Formgebung schon mal das Vierfache verlangt.

Genauso wie die knöchelhohen Leinenturnschuhe „Chuck Taylor Allstar“ reüssiert also auch das Klapprad in einer Zeit, in der die finanziellen Mittel zur Distinktion immer häufiger beschränkt sind. Und in der aus genau diesem Grund das Einfache – und wenn nicht das Billigere, so doch zumindest das Preisgünstigere – selbstbewusst ausgestellt wird. Was in beiden Fällen, dem Klapprad wie dem Leinenschuh, zudem produkthistorisch unterfüttert ist: Beide Dinge waren immer Teil einer Common Culture, einer demokratisierten Konsumkultur. Beide werden erst durch die symbolischen Aufladungen in den Nischen- und Subkulturen – oder eben in der Hegemonialkultur in Prenzlauer Berg – zum Ort exklusiven Begehrens.

Die „Chucks“ von Converse waren der Alltagsschuh, der im Amerika der Fünfziger- und Sechzigerjahre sogar die Rassengrenze ignorierte. Das Klapprad war im Deutschland der Siebzigerjahre das alltägliche Rad, bunt und beliebt auf beiden Seiten der Systemgrenze. In der DDR gefertigt vom volkseigenen Betrieb Mifa – „ein bisschen Rohr, ein bisschen Draht, fertig ist das Mifa-Rad“. In der Bundesrebublik erhältlich in den großen Versand- und Warenhäusern, aber genauso im Angebot von Markenherstellern wie Kettler oder Herkules. Denn zu Zeiten, in denen ein Drittel aller Fahrräder klappbar war – 1975 etwa lag ihr Marktanteil bei 35 Prozent –, konnte sich kein Hersteller eine falsche Arroganz leisten. Wohl aber miese Verarbeitungsqualitäten.

In den Erzählungen einer im Erinnerungsmarketing sensibilisierten Gesellschaft finden sich hinreichende Berichte von kollabierenden Klapprädern und slapstickhaften Stürzen. Da brach ein Lenker in zwei Teile, dort löste sich die Feststellschraube während zügiger Talfahrt. Weshalb die heute zirka Vierzigjährigen auch das ausgeprägteste Unverständnis für jene revitalisierte Fahrradmode zeigen. Im Fall der Klappradrenaissance scheint der oberflächlichste Erklärungsversuch für ein Retrophänomen, das kollektive Zurücksehnen in Kindheits- und Jugenderinnerungen nämlich, nicht zu greifen. Wer mit ihm durch laue Jugendsommer radeln musste, während der Mädchenschwarm aus der Nachbarklasse in einen Rennradlenker griff, wünscht sich das Klapprad kaum zurück.

Es scheint, umgekehrt, gerade eine notwendige Leerstelle im eigenen Erfahrungsschatz zu sein, die die klapprigen Räder von einst unter den heute Zwanzig- bis allerhöchstens Dreißigjährigen so begehrenswert macht. Der Plastiksattel kann unter solchen Bedingungen zu einem beinahe exotischen Ort werden. Zumal wenn darauf Hintern sitzen, die mit der Selbstverständlichkeit der 21-Gang-Kettenschaltung eines Mountainbikes durch die Pubertät geradelt sind. Am Ende verhält es sich mit dem Alltagsphänomen Klapprad gar, wie es die Kulturanalytikerin Aleida Assmann einmal über den kaum alltäglichen Deutschen Herbst gesagt hat: „Vielleicht gehört wirklich dazu, dass man diese Jahre nicht erlebt hat, um sie überhaupt zum Gegenstand nostalgischer Sehnsüchte werden zu lassen.“

Das Klapprad bezieht seinen Reiz, wie so viele Wiedergänger in unserer postmodernen Retrokultur, gerade aus den Widersprüchlichkeiten zwischen alten und neuen Bedeutungen. Und aus dem erwachsenen Bewusstsein, dass das magische Neue immer öfter gerade die neue Gestalt des Alten ist. Auf dem Klapprad flaniert man durch die Straßen, wie auch das Klapprad selbst nicht an einem Ort, nicht an einer Zuschreibung stehen zu bleiben scheint. Und zum Gefährten gerade jener situativen Lebensentwürfe geworden ist, die allzu feste Standpunkte längst hinter sich gelassen haben.

Genau deshalb wird das Klapprad auch wieder verschwinden. In den Kellern, auf den Dachböden. Und aus den eBay-Auktionen. An die Fahrten auf dem Kickboard will sich ja auch niemand mehr erinnern. Denn die Postmoderne hat ein kurzes Gedächtnis. Und das gilt umso mehr, wenn sie sich in der Geschichte bedient.