Im Geiste Titos

Die kroatische Autorin Slavenka Drakulić deutet die Kriegsverbrechen auf dem Balkan provokant – aus der Perspektive der Täter

VON HEIKO HÄNSEL

Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien zu beschreiben ist schwierig. Die Prozesse sind langwierig. Und allein die Dokumentation der abgeschlossenen Verfahren füllen hunderte, manchmal tausende Seiten. Die internationale Öffentlichkeit interessiert sich deshalb kaum für die mühseligen Prozesse und nimmt meist nur kurz von den Urteilen Notiz. So entsteht der Eindruck, in Den Haag würde weniger für die Gegenwart als für künftige Archivare und Historiker gearbeitet.

Das dem nicht so ist, beweist die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulić mit ihrem Buch „Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht“. Seit Jahren begleitet sie die Prozesse. Fünf Monate lang war sie tägliche Prozessbeobachterin und hat im Untersuchungsgefängnis Scheveningen recherchiert.

Slavenka Drakulić ist eine sehr genaue Kennerin der Materie und der Debatten zu den jugoslawischen Nachfolgekriegen. In Deutschland hat sie schon 1992 den Band „Sterben in Kroatien“ (rororo aktuell) herausgegeben. Es war eines der ersten Bücher, die der deutschen Öffentlichkeit eine Erklärung für den ersten Nachkriegskrieg in Europa anboten.

In „Keiner war dabei“ steht die Frage nach Schuld und Verantwortung im Zentrum des Essays. Drakulić’ Antwort ist politisch und an die postjugoslawischen Gesellschaften gerichtet: „Nur wenn wir begreifen, dass die Täter Menschen sind wie wir, sehen wir vielleicht die Gefahr, dass wir demselben Druck erliegen könnten. Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Krieges auf dem Balkan muss man einsehen, dass wir normalen Menschen ihn ermöglicht haben und nicht irgendwelche Irren.“

Drakulić nimmt jeden Einzelnen, auch sich selbst, in die Verantwortung. Sie weist damit insbesondere jene These zurück, die seit 1991 immer wieder vertreten wurde: dass die politischen Eliten die eigentlich in ethnischer Eintracht lebenden Völker zu Krieg und Gewalt verführt hätten. Drakulić sieht die Möglichkeit für den Krieg bereits vor 1991 angelegt.

In ihrem neuen Buch gelingt es ihr, das Material auf exemplarische Weise zu bündeln. Es fällt auf, dass Drakulić dabei mit historischen Erklärungen sparsam umgeht. Anders als in ihrem ersten Buch 1992 geht es ihr nicht um aktuelle Information, sondern um eine philosophische Deutung der Geschehnisse. Die kroatische Autorin, die lange Zeit wegen ihrer antinationalistischen Haltung in ihrem Heimatland verfemt war, nutzt dafür die durch die Gerichtsprozesse vorgegebene Personalisierung der Täter. Sie wagt sich weit in deren Persönlichkeit vor, um das „Warum“ zu beantworten.

Der Serbe Goran Jelisić exekutierte als Lageraufseher wahllos muslimische Gefangene. Sich selbst bezeichnete er als „zweiten Adolf“. Doch vor und auch nach seinen Morden half Jelisić muslimischen Nachbarn und Freunden. „Das Bild, das die (muslimischen) Zeugen der Verteidigung zeichnen, ist so anders, dass man sich fragt, ob sie dieselbe Person beschreiben“, schreibt Drakulić. Die Geschichten solcher Täter entziehen sich fast immer den gängigen Erklärungsmustern für den Balkankrieg.

Ein grausames Glanzstück in diesem Sinne ist das Kapitel „Ein Tag im Leben des Dražen Erdemović“. Aus der Perspektive eines Täters beschreibt Drakulić die Ermordung von 1.200 muslimischen Männern in Srebrenica. Erdemović hat 70 eigenhändig erschossen, obwohl er nur zufällig in Srebrenica war, obwohl er ein eigentlich selbst „halber“ Kroate ist, obwohl er versuchte, den Befehl zu verweigern. Es fällt schwer, diese Darstellung zu Ende zu lesen.

Bei den Reflexionen über die angeklagten Kriegsverbrecher erinnert sich Drakulić mehrfach an ihren Vater. Er war im Zweiten Weltkrieg Partisan und danach Offizier der Jugoslawischen Volksarmee. Sie wurde von ihm im Geist des Titoismus erzogen, über die Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg sprach er jedoch nie. Die Kombination aus dem Schweigen der Elterngeneration und der verlogenen titoistischen Geschichtsversion gilt Drakulić als entscheidende Voraussetzung für den neuen Krieg ab 1991.

In General Radislav Krstić, der wegen Genozids in Srebrenica angeklagt und verurteilt wurde, erkennt sie sogar Züge ihres Vaters wieder. Ja, beide vertraten einst dieselben Werte jugoslawischer Brüderlichkeit und Einheit. Drakulić schaudert bei dem Gedanken, dass auch ihr Vater die Metamorphose Krstić’ vom jugoslawischen Offizier zum Vollstrecker serbisch-nationaler Reinheitsfantasien hätte vollziehen können.

Drakulić hat ein Buch aus der Perspektive der Täter geschrieben. Die intellektuelle Aufrichtigkeit, mit der sie ihr Thema angegangen hat, besticht und überzeugt. Dem Haager Tribunal gibt Drakulić’ Interpretation die moralische und historische Bedeutung, die sich viele bei dessen Gründung erhofften. Dass die Autorin auch auf eine europäische Deutung des Jugoslawienkonflikts drängt, belegt das zeitgleiche Erscheinen ihres Buchs in Deutsch, Englisch, Schwedisch, Kroatisch und Serbisch.

Slavenka Drakulić: „Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht“. Deutsch von Barbara Antkowiak. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004, 200 Seiten, 17,90 Euro