RECHTSCHREIBUNG: EIN WENIG ANARCHIE KANN DER SPRACHE NIE SCHADEN
: Nieder mit dem Duden!

Uns rollt ein Stein von der Seele: Endlich darf sich die ethisch hochgerüstete Schar der Journalisten wieder über ein Problem erregen, das ein solches genannt zu werden verdient. In ZDF und ARD keine Greuel-Meldungen mehr von der Arbeitslosenfront, keine Detail-Hubereien von Hartz IV, keine orangeroten IG-Metall-Streik-Uniformen, kein Großmütterchen, das klammheimlich das Sparschwein ihres Enkelsohnes Stefan-Mathias zerschlägt, weil es anders die zehn Euro Praxisgebühr nicht herbeizuschaffen vermag.

Nein, endlich wieder ein Thema, das die Nation erschüttert wie kein anderes seit den Pfänderspielen um Bundesdosenminister Jürgen Trittin, die den Irak, Bush und Bin Laden von den Bildschirmen fegten. Der Beschluss des Spiegel und des Axel Springer Verlages, nach dem Vorbild der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zur „bewährten Rechtschreibung“ zurückzukehren – das ist es, was unsere Herzen höher schlagen oder verstockten Kulturbürokraten die Zornesader schwellen lässt.

Wir, die Mitglieder der „verwirrten Sprach- und Schreibgemeinschaft“, werden von einem „öffentlichen Unglück“ befreit, das uns in „logische und semantische Abgründe“ zu stürzen drohte, wie es FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, spiritus rector der Rückzugsstrategie, so trefflich in einem Leitartikel formulierte. Hans Magnus Enzensberger hatte nicht lang zuvor, im Namen aller Dichter und Denker deutscher Zunge, sein Donnerwort gesprochen. Niedersachsens Ministerpräsident Wulff mahnte pastoral, „dass alle Beteiligten und Betroffenen in sich gehen“ müssten.

Sein bayrischer Amtsbruder Stoiber kündigte an, er werde im Oktober das „Thema Rechtschreibung auf die Tagesordnung der Kamingespräche“ setzen, woselbst er die widerspenstigen oder zögernden Landesväter von Beust und Milbradt und Koch, vielleicht auch die reformsüchtigen Kurfürsten der Sozialdemokratie zu überreden hofft, das Problem zur „Chefsache“ zu machen und damit die störrische Kulturministerkonferenz, die uns den Alptraum beschert hat, gewissermaßen außer Kraft zu setzen.

Die Gegenreformation marschiert. Die Süddeutsche Zeitung schwenkte schon ein. Die meisten der literarischen Buchverlage wichen ohnedies nie vom altrechten Wege. Und die Kosten, die Kurt Beck allein bei den Schulbüchern auf eine viertel Milliarde Euro schätzt? Verleger Michael Klett wittert keine Katastrophe, vorausgesetzt, die Rückanpassung erfolge schrittweise und im Schutz einer „Kartellerlaubnis“. Noch widersetzen sich – horribile dictu – die taz, die Frankfurter Rundschau, die Chefredakteure von Gruner & Jahr, auch der kleinkarierte Gegenspiegel Focus. Das gibt sich. Wichtiger: neue Kommissionen werden berufen und dürfen tagen, mindestens ein Jahrzehnt lang, bis „Einheitlichkeit, Einfachheit und größere Sinnhaftigkeit“ geschaffen sind, wie Schirrmacher die Aufgabe in gemeißelter Sprache umriss.

Der Autor dieser Zeilen aber fragt schüchtern: warum? Keiner schrieb Goethe vor, wie er zu schreiben habe. Noch Thomas Mann schrieb, wie er wollte, und Einstein, das Genie schlechthin, war Legastheniker. Wieso sollen die Worte zwischen Etsch und Belt über einen alldeutschen Leisten geschlagen werden? Vielfalt ist das Wunder der Sprache. Unregelmäßigkeiten sind ihre schönsten Blüten. Wildwuchs zeigt ihr Leben an. Vermutlich war der „Duden“, gleichviel in welcher Version, von Beginn an ein sprachfeindliches Unternehmen. Ein bisschen Anarchie könnte nicht schaden.

Die Académie Française hat in Jahrhunderten erhabener Wortklauberei nicht verhindert, dass die Zahl der Voll- und Halbanalphabeten beharrlich wächst, und das alljährlich zelebrierte „Dictée“ des Kritikers Bernard Pivot half der krausen Orthographie seiner jugendlichen Landsleute kaum auf. Was den Kommentator angeht: Ihn machte, lange vor der letzten Reform, schon die Eindeutschung „Frisör“ an der Seele krank. Ihm ist es völlig egal, ob die Schiffahrt ein ‚f‘ mehr oder weniger braucht, doch ein Portrait mit ‚ä‘ treibt ihm Tränen, nein, Thränen des Unmuts in die Augen. Wehe dem Redakteur, der Redakteurin, die sich unterstehen, seine Stückchen durch ein Rechtschreibprogramm im Computer zu jagen. Kürzlich verwandelte ein Kollege, dessen Elektronik das Wort „Deist“ nicht kannte, den aufgeklärten Thomas Jefferson kurzerhand in einen „Geist“. Ohne sich dabei Böses zu denken. Eben. KLAUS HARPPRECHT

Der Autor war Berater Willy Brandts und hat eine vorzügliche Biographie Thomas Manns geschrieben. Er lebt in Frankreich