Liebe ist die Botschaft

Seit 30 Jahren organisiert David Mancuso die legendären Loft Partys in New York – hier wurde Disco geboren. Während Mancuso heute oft drei Generationen auf der Tanzfläche hat, nimmt die Disco-Erinnerung unter weißen Europäern religiöse Züge an. Auch die Universitäten entdecken Disco

Für die Aficionados ist Disco zu einer Ersatz-Religion geworden, eine magische Zeit

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Der schwere, bärtige Mann mit der verschlissenen Regenjacke, der durch das kleine Eingangstor an der Avenue A in den Thompkins Square Park gestapft kommt, stopft sich beim Gehen hastig gesalzene Nüsschen in den Mund. Mit den ausgewaschenen Jeans, dem aus der Hose hängenden Flanellhemd und den hellbraunen Wanderstiefeln könnte er durchaus zu der Stammbesetzung gehören, die jeden Tag in dem kleinen Park im East Village herumlungert: Stadtstreicher und Tagediebe, die an den Tischchen mit den eingelassenen Schachbrettern sitzen und ihren Schnaps dezent aus Cola-Pappbechern trinken.

Doch im Gegensatz zu den Gestalten um ihn herum ist David Mancuso in der Dance-Szene der Held von Artikeln, Büchern und Dokumentarfilmen, auch wenn ihn keiner der Herumtreiber erkennt, die hier einen sonnigen Nachmittag genießen. Von Frankie Knuckles über David Morales und Danny Tenaglia bis zu Tony Humphries haben alle amerikanischen Top-DJs der Gegenwart Mancusos Bedeutung für ihre eigene Entwicklung hervorgehoben. Der David Mancuso, der gerade seinen massigen Körper auf eine Parkbank wuchtet, ist nicht nur einer der einflussreichsten DJs der Welt. Wahrscheinlich ist der Sechzigjährige der Mann, ohne den es Disco nie gegeben hätte.

Halt, Moment, da muss Mancuso gleich einhaken: „Mit Disco hatte ich nie etwas zu tun. Disco ist für mich das Studio 54, ‚Saturday Night Fever‘ und die Bee Gees. Also so ziemlich die seelenloseste Musik, die es gibt. Ich habe nie Disco gespielt, sondern nur Musik, die ich toll finde. Ich habe am Ende einer Party um 11 Uhr morgens am Sonntag auch mal die Nussknacker-Suite aufgelegt, damit die Leute Ballett tanzen konnten.“

Sagen wir es so: David Mancusos Club The Loft war der Nukleus, um den sich im New York der frühen Siebzigerjahre eine blühende Szene von Underground-Clubs entwickelte. Sie wurden von einem vorwiegend schwulen Publikum besucht, das dort zu Musik, die sich aus dem Soul und R&B der Sechziger entwickelt hatte, seine beginnende Emanzipation feierte. Diese Musik- und Tanzszene kulminierte Ende der Siebziger in einem relativ kurzlebigen Disco-Boom, der vorübergehend auch Lateinamerika und Europa erreichte, bevor die Musik wieder im Untergrund verschwand. Doch die gesamte House- und Techno-Szene der Gegenwart wäre ohne diese Periode ebenso wenig möglich gewesen wie HipHop.

Wenn Mancuso es zu dieser Zeit darauf angelegt hätte, wäre er heute vielleicht ein reicher Mann. Oder aber ein vorbestrafter Ex-Drogenabhängiger wie Steve Rubell, der mit seinem Studio 54 die Disco-Dollars säckeweise einstrich mit einem Einladungssystem, das er sich von Mancuso abgeguckt hatte, und mit Hilfe des DJ Nicky Siano, der seinerseits ein „Loft-Baby“ war. Mancuso ist lieber seinen Idealen gefolgt und bei den House-Partys geblieben, die jeden Samstag in seiner eigenen, weitläufigen Wohnung stattfanden (daher der Name „Loft“), um seine Miete bezahlen zu können.

Was sein Loft von den anderen Proto-Disco-Clubs der Siebziger unterscheidet, ist die Tatsache, dass es ihn bis heute gibt. Seit zwei Jahren ist er zwar nicht mehr in Mancusos Wohnung, sondern in einem angemieteten Saal. Auch die Obstbowle mag heute nicht mehr mit LSD versetzt sein. Aber ansonsten hat sich in mehr als einem Vierteljahrhundert wenig geändert: Eingeladen wird man nur, wenn man zu David Mancusos riesigem Freundeskreis gehört. Alle zahlen denselben Eintrittspreis (zurzeit 25 Dollar) und können dafür so viel von den Getränken und dem selbst gekochten, makrobiotischen Essen nehmen, wie sie wollen.

Alkohol gibt es nicht, denn dann muss man für seine Party auch keine Ausschankgenehmigung beantragen: „Ich will mich so weit wie möglich vom System fern halten. Wenn man keinen Alkohol verkauft, haben die auch keine Möglichkeit, einen zu kontrollieren. Außerdem können Leute jedes Alters kommen. Viele bringen ihre Kinder mit. Es sind immer ein paar Fünfjährige da, aber auch Leute, die über sechzig sind. Es ist sehr wichtig, dass die Generationen zusammen feiern. Manchmal sehe ich auf der Tanzfläche die Großmutter, die Mutter und die Enkelin gleichzeitig tanzen. Und zwei von ihnen kenne ich schon, seit sie Babys waren“, sagt Mancuso und macht dabei mit seinen Armen eine wiegende Bewegung. Streng genommen ist The Loft also gar kein Club, sondern eine Privatparty, die es seit über 30 Jahren gibt. Und weil hier nur einer die Regeln macht, nämlich David Mancuso, ist es wohl auch die einzige New Yorker Tanzveranstaltung, bei der man noch rauchen darf. „The Loft is a feeling“, sagt er und zieht so gierig an einer Zigarette, als enthielte sie ein für ihn lebenswichtiges Element. „Ich will, dass The Loft ein Ruhepunkt ist. Es geht darum, miteinander zu teilen. Im Grunde will ich mit dem Loft sozialen Fortschritt möglich machen.“

Eigentlich ist Mancuso mit seinem schulterlangen Haar, das sich am Mittelscheitel zu lichten beginnt, also lediglich den Idealen der Sechzigerjahre treu geblieben, mit denen er aufgewachsen ist. Er hat aus den Be-ins und Acid-Tests dieser Zeit nicht nur die Idee hinübergerettet, dass eine Feier eine komplette, sinnliche Erfahrung aus Musik, Lichteffekten und Tanz sein sollte. Lange ist Disco vor allem wegen seiner campen, kitschigen Künstlichkeit als Vorbote der beginnenden Postmoderne betrachtet worden. Aber in der Zeit vor „Saturday Night Fever“ war der Dance-Underground New Yorks eine fast rührend aufrichtige, ironiefreie Angelegenheit, der es ernst war mit der „brotherly love“. Das lässt sich auch an den Titeln einiger Hymnen dieser Zeit ablesen: „Love is the message“, „Love and happiness“, „Love Train“, „We are family“. Zusammen mit den Schilderungen der Underground-Disco-Bacchanalien, bei denen die Freunde der Nacht gemeinsam in ozeanische Euphorien abtauchten, liefert diese mythische Periode darum gerade den Stoff für ein weiteres Disco-Revival.

Denn gegenwärtig erleben wir die schätzungsweise fünfte bis sechste Disco-Retro, und diejenigen, die das Revival diesmal veranstalten, meinen es ernst. Für sie ist Disco nicht ein amüsantes Zeitgeist-Phänomen der Siebzigerjahre, bei dem sich unbeschwerte Musik mit Hedonismus und einem zweifelhaften Bekleidungsgeschmack gepaart hat. Für die Disco-Aficionados der Gegenwart ist Disco zu einer Art Ersatzreligion geworden: eine magische Zeit, die nun mit philologischer Gründlichkeit aufgearbeitet werden muss. Man könnte fast sagen, dass wir es nun mit dem Disco-Revival der Archivare zu tun haben. Diesmal ist es nicht damit getan, dass Plattenfirmen ein paar alte Gassenhauer aus dem Firmenkeller auf CD wieder veröffentlichen oder bestenfalls noch von einem DJ der Gegenwart durch den Remix-Wolf drehen lassen.

Jetzt werden die „wahren“ Klassiker der Underground-Discos auf Kompilationen wie „Disco Spectrum“ oder „Disco Not Disco“ wieder herausgebracht, die viel von historisch-kritischen Ausgaben haben. In liebevoll und sorgfältig gestalteten Covern finden sich ausführlichste Linernotes, die verzeichnen, in welchem Club ein bestimmtes Stück zu welcher Zeit welche Art von Begeisterung ausgelöst hat und wer die Congas gespielt hat. Und dass der legendäre DJ Larry Levan diesen Track Anfang der Achtzigerjahre in der Paradise Garage immer am Ende der Nacht aufzulegen pflegte.

Zu dem neusten Disco-Revival haben einige Bücher beigetragen: „Keep on dancing“, die Autobiografie des Disco-Produzenten Mel Cheren etwa, und das großartig recherchierte „Last night a DJ saved my life“ von Bill Brewster und Frank Broughton. Interessanterweise sind die meisten dieser Disco-Archäologen Europäer, die nach den Wurzeln des Dance-Booms suchen, der seit Anfang der Neunzigerjahre auch das Nachtleben der Alten Welt verändert hat. Zu den Pionieren unter den Historikern des US-Nachtlebens gehören interessanterweise zwei Deutsche: Ulf Poschardt mit seiner Dissertation „DJ Culture“ und Kai Fiekentscher mit seiner Magisterarbeit „You gotta work“. Und dann gibt es noch den Dokumentarfilm „Maestro“, der im September endlich auch in Deutschland starten wird.

Die europäische Disco-Szene spielt in diesen Büchern leider meist nur eine Nebenrolle, im Zentrum stehen immer wieder die sagenumwobenen Clubs von New York und Chicago. So merkwürdig Leute wirken, die sich mit lange vergangenen Tanzflächen-Ekstasen beschäftigen, die sie selbst nie erlebt haben – es könnte gut sein, dass sie an einer alternativen Version von Kulturgeschichte arbeiten, die vielleicht in einer fernen Zukunft als die eigentliche verstanden wird – und nicht das, was wir heute als High Culture betrachten. Denn wenn ein Retro-Phänomen oft genug recycelt worden ist, ist es irgendwann schlicht: Geschichte. Der vorläufige Höhepunkt der Kanonisierung von Disco, die langsam Züge akademischer Pedanterie anzunehmen beginnt, ist das 500-seitige „Love saves the day“ (Duke University Press, 24 Dollar) von Tim Lawrence. Obwohl er im Wesentlichen bekannte Informationen aufwärmt, behauptet der Londoner Uni-Professor frech, er habe das erste Buch über die New Yorker Disco-Szene der Siebziger geschrieben. Solch universitäres Platzhirsch-Gebaren ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier an einer endgültigen Historisierung von Disco gearbeitet wird.

Im Mittelpunkt von Lawrence’ Buch steht David Mancuso. Dem scheint seine gerade stattfindende Heroisierung freilich relativ gleichgültig zu sein. Ein Auto könne er sich bis heute nicht leisten, sagt er. Aber weil er ein gutes Ding bis heute nicht für sich behalten kann, hilft er inzwischen Party-Enthusiasten in England, Japan und Italien dabei, eigene Versionen der Loft-Partys zu organisieren. Und seine Augen beginnen immer noch zu leuchten, wenn er von denen erzählt. „Ich lerne aus jeder Party etwas Neues“, sagt er. „Es ist jedes Mal so, als würde meine innere Uhr neu aufgezogen. Ich werde bis an mein Lebensende nichts anderes machen.“