Stadt ohne Fluss

DAS SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH

„Wir fürchten, gegen das nächste Mal werden die März-Unruhen in Mitrovica ein Lüftchen sein“

Dass er einmal Frontman einer Rockband war, sieht man ihm nicht an, und auch nicht die Fünfundvierzig – aber hier sehen alle älter aus. Außerdem hat Migjen Sorgen. Die Computer sind wieder einmal zusammengebrochen. Es regnet in Prishtina, seit zwei Tagen, die Nebenstraßen verwandeln sich in Schlamm, gestern fiel der Strom neun Stunden lang aus. Draußen dröhnen die Generatoren, und im Café erzählt mir Migjen Kelmendi die Geschichte der Traces, der kosovarischen Rockband aus den Achtzigern, deren Lieder jeder kannte. Das vom „Mikrophon“ etwa: „Du hast so viel durchgemacht / dass du es gar nicht mehr magst / wenn man in dich spricht / Aber es ist noch nicht zu spät / wenn wir Schluss mit der Vergangenheit machen“ – und dann, nach einem wilden Gitarrensolo, der Refrain: „Jeder kann es sich nehmen!“

Die serbischen Bürokraten, die mit Tränengas gegen die Studenten vorgingen, hörten es nicht gern. Nicht die Worte und nicht diese Mischung aus David Byrne und albanischer Volksmusik. „Alle Straßen führen nach Prishtina“ – das war eine Hymne auf die Stadt, in der türkisch sprechende Bauern mit großen Augen auf geschminkte Musliminnen glotzten und Arbeit suchten, es war Großstadt-Lyrik über einer Mischung aus Garagen-Punk und orientalischen Glissandi von Dorfgeigen; es war die Behauptung, dass man die Çifteli, das zweisaitige Instrument der Dörfler, mitnehmen kann in die moderne Welt.

Die Sozialistische Liga des Arbeitenden Volkes von Kosovo fand das Lied dekadent, die Kommunisten sahen gefährlichen Nationalismus. „Dabei war es postmodern“, lacht Migjen, und ein Hauch sanft blitzender Begeisterung huscht über sein Gesicht, das sonst ein wenig müde ist, „wir hatten den Ethno-Rock erfunden, ohne zu wissen, dass es ihn noch nicht gab. Aber sie nannten uns gehirnkrank, und wir gingen in den Untergrund der Cafés. Wir hatten verloren.“

Als Milošević kam, traten die Traces noch einmal auf, 1988, und Migjen Kelmendi schrieb das Lied, das ihm am wichtigsten ist: „Held in der Stadt ohne Fluss“. Es gab einmal einen Fluss, der durch Prishtina floss. Die Leute warfen ihren Unrat in ihn, es stank, und irgendwann hatte ein durchgeknallter Urbanist, der nicht ans Aufräumen glaubte, die Idee, den Fluss unter Beton verschwinden zu lassen. Prishtina wurde zur Stadt ohne Fluss. Die Erinnerung an ihn verblasste, nur die Alten wussten noch, wo er verlief; es sei, so erzählten sie, sogar einmal jemand darin ertrunken. „Held in der Stadt ohne Fluss“ wurde zum Lied einer Generation junger, gebildeter Kosovaren, die so viel wollten, aber nicht wussten, wie, mit einer zerstörten Vergangenheit, ohne Perspektive, in Grenzen, die sich wieder schlossen.

Der Bassist der Traces, ein Ökonom, und der Rechtsanwalt, der Drummer war, leben heute in London, der Sologitarrist ist Architekt in Zürich, der Sänger des Liedes von den traurigen Helden hat in Deutschland geheiratet. Nur Migjen ist geblieben. 1999, als serbische Milizen die Albaner vertrieben, wurde es still in Prishtina. Nachts hörte man die Schritte der Flüchtlinge in den verdunkelten Straßen, und irgendwann auch die nicht mehr. „Und da erst“, erzählt Migjen, „als die Stadt ganz leer war, so, als hätte ein durchgedrehter Regisseur beschlossen, eine ganze Stadt zu räumen, nur um einen Special Sound Effect zu kriegen – erst in diesem Augenblick konnte ich das Geräusch hören, tief unter dem Beton: das Rauschen des Flusses. Manchmal denke ich, Prishtina ist gar nicht so eine hässliche Stadt.“

Migjen Kelmendi ist Chefredakteur von Java, einer politisch-kulturellen Wochenzeitung, dem einzigen Blatt, das in Gegh geschrieben ist, der Sprache Nordalbaniens und des Kosovo, die so arg missbraucht wurde – erst von den Tirana-Kommunisten unterdrückt, dann von den Großalbaniern als Machenschaft Belgrads denunziert. Die schriftliche Durchsetzung der Volkssprache – das war Migjens Heldentat.

Java hält kritische Distanz zur politischen Klasse, versucht, Brücken zu den politischen und kulturellen Debatten des Westens zu schlagen; die Kunstbeilage „arta“ wird von der deutschen Kulturstiftung des Bundes finanziert, die eine Gruppe von Intellektuellen und Künstlern fördert. Alle miteinander sind Teil der „stillen Elite“, die in den Neunzigerjahren die Schulen, Universitäten, die Organisationen der albanischen Gegengesellschaft getragen und sich heute resigniert zurückgezogen hat, aus der maroden Universität mit ihren zwanzig Jahre alten Lehrplänen, den Parteien, die in Bereicherungs-Seilschaften zerfallen sind und mit der Unmik-Verwaltung ein filziges Netz von Korruption und Inkompetenz bilden. „Es gibt viele von diesen Leuten“, sagt Enver Hasani, der neue, von Unmik ernannte außenpolitische Koordinator des Kosovo, „sie bilden immer noch eine kritische Masse, wenn es einen wirklichen Neubeginn gäbe. Aber die Zeit arbeitet gegen uns.“

Unter der Losung „Standards before Status“ schieben die Großmächte die Entscheidung über den Status des Kosovo vor sich her. Europa hat keine Meinung, und die USA sind im Irak. Die Wirtschaft ist kaputt, das E-Werk auf dem Amselfeld, für zwei Milliarden Euro „saniert“, fällt öfter aus als vorher, 50 Prozent sind arbeitslos, das Land lebt von den Geldern der Diaspora und den Dienstleistungen für die Besatzer. Und deren Ansehen ist nicht erst seit den Unruhen und Brandschatzungen des März auf dem Nullpunkt.

Die Großmächte schieben die Entscheidung über den Status des Kosovo vor sich her

„Im September wird die Wahlbeteiligung noch einmal sinken, wir sitzen auf einem Pulverfass, die UÇK ist aufgelöst, aber die Menschen erwarten für 2005 die Unabhängigkeit, wir fürchten, gegen das nächste Mal werden die März-Unruhen von Mitrovica ein Lüftchen sein.“ Das sagen die KFOR-Offiziere, das sagt die Schweizer Diplomatin, das sagen fast alle. Und Professor Hasani fügt hinzu: „Niemand will ein souveränes Kosovo, es würde nicht funktionieren. Es geht auch nicht um Nationalismus, diese Tünche wird immer dünner, es geht um Rückständigkeit. Wir brauchen eine Große Konferenz, die eine Gesamtlösung auf dem Balkan beschließt, und Kosovo muss zum Condominium werden, für lange Zeit, mit einer stabilen Verwaltung durch fünf, sechs Länder, die einen Aufbau von unten in Gang setzen. Die Bevölkerung würde jeden Status akzeptieren, wenn die Verwaltung, die Schulen, die Universitäten funktionieren, wenn es Wasser gibt und Strom – da ist ein Zusammenhang von Demokratie und Elektrizität.“

„Europa ist die Endlösung“, sagt Migjen, und er lacht über das Wort, „aber Europa hat uns vergessen.“ Es regnet immer noch in Prishtina, die Generatoren dröhnen, und zwei Vormittagsschnäpse lang träumen wir von einer großen Aktion: mit EU-Geldern, lokalen Baufirmen, Künstlern und Blaskapellen wird der Fluss unter Prishtina freigelegt. Das wäre nicht die Unabhängigkeit, das wäre nicht der Reichtum. Aber es wäre ein luxuriöses Geschenk, das sagte: Wir fangen an, euch kennen zu lernen, mit eurer Vergangenheit, und mit dem, was unter ihr begraben liegt. Und Migjen würde noch einmal singen. Irgend so etwas murmelte er jedenfalls, bevor er im Regen verschwand.