In den kinos läuft es nicht

Am samstag gehen die 57. filmfestspiele von Locarno zu ende. Seit 2002 gehören sie offiziell zur kategorie der a-festivals. Doch die neuen regeln haben dem filmprogramm nicht gutgetan

VON VERONIKA RALL

Ein blauer himmel über dem malerischen Tessin; segelbötchen auf dem Lago Maggiore; die menschen entspannt mit einem Campari Soda in der hand auf den terrassen der am hang gelegenen hotels; unten in den kinosälen und in einem der schönsten open-air-kinos der welt jede menge filme. Betreffs seines freizeitwertes, so nimmt man an, ist das festival von Locarno ein reiner selbstläufer.

Doch in den kinos läuft es nicht, und das ist ein desaster. Allein auf der Piazza Grande sind die besucherzahlen rückläufig (obwohl neuerdings bei jedem wetter projiziert wird), und das liegt an den filmen. Während Volker Schlöndorff mit „Der neunte tag“ noch einen solid-politisierenden anfang setzte – der film erzählt von den gewissensentscheiden eines katholischen priesters unter dem nationalsozialismus –, nahm einen abend später das debakel mit Patrice Lecontes „Dogora“ seinen lauf. Zum gleichnamigen musikstück des französischen komponisten Etienne Perruchon hat der filmemacher „während einer reise durch Kambodscha dazu passende bilder entdeckt“. So steht es im katalog. Den film als ethnokitsch erster klasse abzuwerten, wäre ein kompliment. Einen abend später trat Nick Cassavetes mit „The notebook“ an, und schon die unzähligen möwen im sonnenuntergang ließen das schlimmste befürchten, einen tag später galt es in Hella Joofs „Oh happy day“ dänischen gospel auszuhalten.

Was, zum teufel, ist mit dem Locarno passiert? Einst war das festival fast ein geheimtipp mit einem außerordentlich liebenswerten profil: nur der erste bis dritte film eines filmemachers, einer autorin wurde in den wettbewerb eingeladen, und nur auf der Piazza Grande konnte und wollte man Venedig, Cannes oder Berlin konkurrenz machen – indem man ihre preisträger fürs publikum nachspielte. Doch unter dem präsidium von Marco Solari und der künstlerischen direktion der ehemaligen linksjournalistin Irene Bignardi entschied man sich 2002 für eine trendwende. Das festival sollte in die vom internationalen filmproduzentenverband Fiapf vergebene a-kategorie aufsteigen: auf eine programmatik musste zukünftig verzichtet werden, zum wettbewerb und auf der Piazza Grande wurden nur filme zugelassen, die außerhalb ihres produktionslandes noch nicht gezeigt wurden. Das budget musste angehoben werden (heute sind es knapp 10 millionen Schweizer Franken, das sind ca. 7,5 millionen Euro). Nicht nur verlangte die Fiapf eine bestimmte qualität an leinwänden, sie stellt auch ansprüche an quantitäten: mehr produzenten, mehr journalisten, mehr publikum, höhere preisgelder.

Locarno hat die auflagen erfüllt und sich in den zirkel der großen festivals eingereiht. Und das ist für die piazza wie für den wettbewerb ein desaster. Schon letztes jahr bekannte Irene Bignardi freimütig, dass sie eine ganze reihe filme, die sie gerne gezeigt hätte, anderen überlassen musste: „Da sind viele filme, die ich sehr, sehr mag, die ich für Locarno nicht bekomme. Sie gehen direkt nach Venedig.“ Für Locarno bleiben filme, die für einen internationalen wettbewerb zu klein ausfallen: „André Valente“, der portugiesische beitrag, eine kleine, einfühlsame geschichte um einen achtjährigen. „Dastan natamam“ des iraners Hassan Yektapanah, eine kleine satire um ein filmteam, das flüchtlinge begleitet. Und auch „En garde“ von Ayse Polat, eine adoleszenzgeschichte in einem katholischen heim, ist zwar keine schlechte produktion von X Filme, aber eben auch kein großer wurf. Oskar Roehlers neuer film, „Agnes und seine brüder“, hingegen war, so geht das gerücht, in den wettbewerb eingeladen. Doch er wird in einer nebenreihe in – ja, man ahnt es –Venedig zu sehen sein.

Zusätzlich ist das festival überfrachtet. In etwa 15 programmen laufen an zehn tagen mehr als 300 filme (zum vergleich: in Venedig werden es dieses jahr 90 sein). Das sorgt nicht für qualität, sondern für unüberschaubarkeit. Hier die retrospektive „newsfront“, dort der videowettbewerb, hier die „cinéasten der gegenwart“, und in allen drei nebenreihen kann man brisante beiträge zur US-amerikanischen gegenwartspolitik sehen – wenn man sie sich im 350 seiten umfassenden katalog zusammensammeln kann.

Auf einem empfang stehen eine reihe schüchterner filmemacherinnen und produzenten aus Vietnam, Laos und Kambodscha, eigentlich sollen die protagonisten der „offenen tür: Mekong“ kollegen aus europäischen ländern treffen, nur hat offensichtlich niemand die einladung wahrgenommen. Gleichzeitig liefert sich die schweizer politprominenz in der sommerpause heftige geplänkel auf dem filmparkett: der für kulturangelegenheiten zuständige bundesrat Pascal Couchepin neidet seiner für die außenpolitik zuständigen kollegin, Micheline Calmy-Rey, die diskussionsplattform – dass sie ausgerechnet das reiche Festival Locarno ebenfalls mit 600.000 Franken subventioniert, bleibt hingegen unumstritten. Andere festivals wie die von Fribourg, Nyon oder Solothurn müssen mit kleineren summen ihre ganzen etats bestreiten.

Aber was sind die alternativen für Locarno? Das festival in den winter verlegen? Das hat Wolf Donner als leiter der Berlinale 1978 getan, und es war eine kluge entscheidung. Aber: dezember, vielleicht, am Lago? Frieren statt schwitzen in hotelzimmern und kinosälen? Heißer tee statt Campari? Nein, da wünscht man eher, Irene Bignardi würde das festival abspecken und von seinen falschen Ambitionen befreien. Locarno wäre dann vielleicht nicht mehr der tummelplatz der prominenz. Und vielleicht auch nicht mehr der liebling der zahlreichen sponsoren. Aber wieder ein ernst zu nehmendes, liebenswertes filmfestival.