Der neue Maßstab für Respekt

Die Proteste gegen Hartz IV bedeuten einen „Wertewandel von unten“: Das Thema Arbeitslosigkeit ist dort angekommen, wo es hingehört – in der Mitte der Gesellschaft

Persönlicher Aufstieg ist nicht planbar, der Abstieg unkontrollierbar – das Lebensgefühl gibt es im Osten schon

Dass die Empörung über Hartz IV so heftig und stark werden würde, hat wahrscheinlich auch die rot-grüne Bundesregierung überrascht. Zumal Sozialreformen, die kurz vor der Sommerpause beschlossen werden, oftmals im Sommerloch untergehen und nur müde Proteste nach sich ziehen. Dass dies beim Streit um die Hartz-IV-Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes nicht der Fall ist, liegt nicht nur an den materiellen Kürzungen: Mit den Protesten gegen das neue Gesetz könnte sich in Deutschland ein Wertewandel vollziehen. Und das hat sein Gutes.

Erstens fällt auf, dass die Debatte um die „faulen Arbeitslosen“ derzeit wie durch ein Wunder von der medialen Bildfläche verschwunden ist. Man erinnere sich: Genau vor einem Jahr regte sich die Boulevardpresse über „Florida-Rolf“ auf, jenen Sozialhilfeempfänger, der sich seine Stütze nach Miami überwiesen ließ. Flugs wurde am Sozialhilfegesetz herumgebastelt, um solche Fälle künftig zu vermeiden.

Heute, ein Jahr später, sind Sozialbetrüger kein großes Thema. Stattdessen entdeckte die Boulevardpresse eine Gemeinheit nach der anderen, die Arbeitslose durch Hartz IV zu erwarten haben. Umziehen in Plattenbauten! Gartenlaube weg! Kindersparbücher auflösen!

Die sozialen Schlüsselreize zeigen, dass das Thema Arbeitslosigkeit da angekommen ist, wo es hingehört: In die Mitte der Gesellschaft. Das ist gut für alle Erwerbslosen. Die Marginalisierung des Arbeitslosenschicksals wird damit wenigstens ansatzweise aufgehoben.

Zweitens zeigen die Proteste auch etwas, das bei den Demonstrationen gegen die Agenda 2010 so nicht spürbar war: Sie erzählen von individuellen Schicksalen, sie sind keine von den Gewerkschaften organisierten Massenmärsche. In den Medien erschienen dazu gehäuft Porträts von Langzeitarbeitslosen, die meist dreierlei auszeichnet: Erstens stammen erstaunlich viele aus der Mittelschicht, zweitens haben viele schon einen Bewerbungsmarathon hinter sich, und drittens blicken sie ziemlich hoffnungslos in die Zukunft. Facharbeiter, Sozialpädagoginnen, IT-Experten in ihren späten 40ern oder auch frühen 50ern erzählen, dass sie schon aufgrund ihres Alters glauben, keine Chance mehr zu haben auf dem Jobmarkt. Die Botschaft ist klar: Es kann jeden treffen, auch dich. Und du kannst nichts dagegen tun.

Inaktuell erscheinen plötzlich die alten Sozialtheorien über die „Zweidrittelgesellschaft“, nach der ein Drittel ausgeschlossen wird, die restlichen zwei Drittel sich aber in relativer Sicherheit wähnen können. Die Definition von „Problemgruppen“ in der Sozialpolitik wie Ausländer, Alleinerziehende, Geringqualifizierte, diente ja auch immer dazu, die nicht dazugehörige Mehrheit in Sicherheit zu wiegen.

Doch die Exklusion kann heute, schon allein wegen der Altersdiskriminierung, Menschen aus fast allen Milieus treffen. Es braucht nur der Betrieb Pleite zu gehen. Und auch die Tatsache, dass die Arbeitsmarktlage in vielen Regionen Ostdeutschlands so desolat ist, liegt bekanntlich nicht in der Schuld der Bewohner, sondern in der jüngeren Geschichte.

Altersdiskriminierung, Betriebsschicksal, deutsche Geschichte: Die Gründe, warum Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen, verletzen das herkömmliche Gerechtigkeitsempfinden. Auch das befeuert die Wut auf Hartz IV. Obendrein kommen die Hartz-Gesetze in einer Zeit, in der sich auf dem Jobmarkt ganz allgemein wenig tut und der Politik daher die Beschwichtigungen ausgehen.

In den Schicksalen der Arbeitslosen liegt daher ein starkes Identifikationspotenzial auch für die Erwerbstätigen. Genau deshalb ist die Politik besorgt: Bezeichnend, dass der Bundeskanzler jetzt zum Spitzengespräch über Hartz IV rief, nach der von den Gewerkschaften organisierten Massendemonstration gegen die Agenda 2010 im April hingegen viel gelassener reagierte. Gewerkschaftsproteste, das kennt man. Doch Veranstaltungen wie die Montagsdemonstrationen sind neu und erzeugen daher mehr emotionale und mediale Energie.

Es klingt paradox: Dank Hartz IV und der Proteste dagegen sind die Arbeitslosen rehabilitiert, die Montagsdemos sind eine „Politik der Würde“, um einen Begriff des Philosophen Avishai Margalit zu verwenden.

Damit verschiebt sich möglicherweise auch der gesamte gesellschaftliche Maßstab für Leistung und Erfolg, also für ein Leben in Selbstrespekt. In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, ohne Aussicht auf schnelle Besserung, könnte sich nämlich nicht mehr der Modus von Wachstum und Aufstieg, sondern der Modus des Überlebens zum neuen Leitbild entwickeln. Die „improvisierte Biografie“ wird dann zur neuen Norm.

Ein solcher Wertewandel „von unten“ wäre dann das eigentlich Dramatische rund um die Hartz-Proteste. Er könnte dann eintreten, wenn der persönliche Aufstieg für breite Wählerschichten nicht mehr planbar und der Abstieg nicht mehr kontrollierbar erscheint – ein Lebensgefühl, das im Osten schon häufig zu finden ist.

Zunehmend prägt dieses Lebensgefühl auch den Westen, denn der Aufstieg der FacharbeiterInnen in die unteren Mittelschichten, die Sicherheit der Angestellten- und akademischen Milieus, all das ist heute bedroht. Genau für diese Bevölkerungsgruppen stellt Hartz IV auch den größten Einschnitt dar. Die heute schon Armen büßen hingegen durch die Hartz-Gesetze kaum Geld ein, manche Sozialhilfeempfänger werden durch das künftige Arbeitslosengeld II sogar ein kleines bisschen besser gestellt.

Alter, Betriebspleiten, deutsche Einheit: Die Gründe für Joblosigkeit verletzen das Gerechtigkeitsgefühl

Für viele Angehörige der unteren und mittleren Mittelschichten rückt daher jetzt ein Leitbild in die Mitte, nachdem bisher schon viele Marginalisierte leben müssen: Es geht nicht mehr darum, groß rauszukommen, sondern nur darum, einigermaßen gut durchzukommen. Wenn sich die Umstände verschlechtern, ist das „gut Durchkommen“ schon eine Leistung, vielleicht sogar eine Heldentat. Kriegsgenerationen kennen das. Auch viele alleinerziehende Mütter können von diesem „improvisierten Leben“ heute schon ein Lied singen.

Die Politik wird Arbeitslosigkeit jedenfalls nicht mehr als eine Art „Nichtexistenz“ behandeln können. Biografien mit Phasen der Arbeitslosigkeit, mit niedrigem Einkommen, mit der Abhängigkeit von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, mit dem Lavieren zwischen Stütze, Beschäftigungsmaßnahme, Jobsuche, Hoffnung und dem Sich-Einrichten: Sie sind keine Randerscheinung mehr in Deutschland, sondern für Millionen schlichte Normalität.

Wenn individuelles Schicksal aber wieder zum kollektiven wird, ist das auch eine Entlastung für die Betroffenen. Diese Arbeit jedenfalls haben die Hartz-Proteste geleistet – ganz abgesehen von den neuesten Änderungen der Bundesregierung, die Freibeträge für Sparkonten von Kindern zu erhöhen und den Auszahlungstermin des Arbeitslosengelds II doch noch vorzuziehen.

BARBARA DRIBBUSCH