Kleines Land, große Träume

Wer über Olympia in Athen spricht, kommt ohne Rekurs auf die Antike nicht aus. Damit wird Griechenland unterschätzt – und der enge Patriotismus der Griechen befördert

Griechenland hat den Beitrag der ausländischen Hände zu den Spielen niemals anerkannt

Die Griechen haben es geschafft. Wenn keine Attentate dazwischenkommen und die Dopingfälle nicht das griechische Publikum vergraulen, dürfte Athen 2004 ein rauschender Erfolg und ein denkwürdiges Ereignis werden. Das wäre Balsam auf die Seele der Griechen, denn endlich könnten sie sich der Welt anders darstellen, als diese sie bislang wahrgenommen hat: als putziges Satziki-Sirtaki-Souvlaki-Völkchen, das seiner glorreichen Vergangenheit nicht das Wasser reichen kann.

Zu Missverständnissen gehören allerdings immer zwei: Die eine Seite ist die griechische Gesellschaft, die zu solchen unhistorischen Bezügen und unsinnigen Vergleichen ständig einlädt. Die andere Seite sind die Ausländer, die den Unfug mitmachen. Das gilt auch für die Zunft der Journalisten. Kaum ein Kommentar über die Athener Olympia-Vorbereitungen kommt ohne den Griff in die Bildungskiste aus. Dass Chaos ein griechisches Wort ist, bleibt selten unerwähnt. Und der Hinweis auf die Aufgaben, die der alte Herkules oder der noch ältere Sisyphos zu bewältigen hatten, wird auch dann bemüht, wenn es nicht wirklich passt.

Für die Olympischen Spiele 2004 war das Missverständnis von Anfang an programmiert. Die Spiele kehren nach Hause zurück, lautet der Slogan, mit dem die Athener Organisatoren den Rest der Welt an ihr Copyright für Olympia erinnern wollen. Dabei haben die Althistoriker und Archäologen längst herausgefunden, dass im alten Olympia keine Spiele, sondern agones, also Kämpfe stattfanden. Und dass diesen Kämpfern die nette Aufforderung, teilnehmen sei wichtiger als siegen, überhaupt nicht eingeleuchtet hätte.

Der Bezug auf das antike Hellas ist eine Übung, bei der die heutigen Hellenen nur verlieren können. Man könnte sogar sagen, dass das moderne Griechenland erst dann zum selbstbewussten europäischen Partnerstaat geworden ist, wenn es die Ausbeutung seiner antiken Vergangenheit nicht mehr nötig hat. Der Zeitpunkt könnte mit Olympia 2004 gekommen sein. Denn das Land ist weitaus moderner und leistungsfähiger, als es sich selbst darstellt. Deshalb ist ein Rückblick auf die Athener Spiele von 1896 viel aufschlussreicher als der Rekurs auf die Antike.

An den ersten modernen Olympischen Spielen nahmen knapp 100 ausländische Sportler aus 12 Ländern teil. Für die zehn Wettkampfdisziplinen brauchte man nur zwei Sportstätten: ein Marmorstadion und ein Velodrom. Beide wurden von einem einzigen Sponsor finanziert, dem in Ägypten reich gewordenen Griechen Georgios Averoff. Für Sicherheit und Ordnung sorgten 150 Soldaten und ein paar Dutzend Polizisten.

Das Land, das dieses bescheidene Ereignis zu organisieren hatte, war ein kleines Königreich, das noch nicht einmal bis Kreta und Thessaloniki reichte. Aber das kleine Land litt unter Größenwahn. Die Durchführung der Spiele diente auch der Propaganda für seine „große Idee“, die auf die Eroberung weiter Teile Kleinasiens und Istanbuls zielte.

108 Jahre später sind bei den 29. Olympischen Sommerspielen etwa 10.500 Teilnehmer aus 202 Ländern vertreten. Die Veranstalter mussten – ohne Hilfe privater Mäzene – 35 teure Sportanlagen errichten. Und 2004 zieht das Ereignis nicht nur hunderttausende Touristen aus aller Welt an, sondern auch zehntausende von VIPs aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Halbwelt. Für deren Sicherheit ist eine 70.000-köpfige Heerschar von Soldaten, Polizisten und privaten Wachleuten im Einsatz.

Das Land, dass diese Aufgabe zu bewältigen hat, ist allerdings nicht mehr das schwächliche Königreich von 1896. Griechenland gehört innerhalb der erweiterten EU zu den mittelgroßen Staaten. Seine politische Klasse hat das ehrgeizige Ziel, zu einem Kerneuropa mit einer gemeinsamen Außenpolitik dazuzugehören. Die Aussöhnung mit der Türkei ist ein Prozess, den niemand mehr rückgängig machen will. Und in der Balkanregion ist das Land zu einem stabilisierenden Faktor geworden, das die nationalistische Hysterie der 1990er-Jahre weit hinter sich gelassen hat.

Dank dieser Entwicklung zur Normalität, die ohne die sanften Zwänge der EU-Mitgliedschaft so nicht stattgefunden hätte, wären die Griechen nicht die großzügigen Gastgeber, die sie dieser Tage sind. Und auch finanziell hätten sie die olympische Last nicht stemmen können. Angesichts direkter und indirekter Finanzhilfen aus EU-Kassen sind die Athener Spiele also auch ein europäisches Projekt.

Der enge Patriotismus, mit dem viele Griechen die Olympischen Spiele als ihren „Besitz“ betrachten, ist schon aus diesen Gründen nicht angebracht. Ob es dem Land gelingt, sich als moderne, weltoffene Gesellschaft darzustellen, wird vor allem davon abhängen, ob die kosmopolitische Olympia-Atmosphäre auch als Chance wahrgenommen wird, die national verengten Anschauungen und den Nabelschau-Patriotismus zu überwinden.

Das Land ist weitaus moderner und leistungsfähiger,als es sich selbst darstellt

Wie weit das in den kommenden Wochen in Athen gelingt, wird sich an einigen kritischen Punkten überprüfen lassen. Zum Beispiel daran, wie man zur Kritik aus „dem Ausland“ steht, die vor allem in der Presse vorwiegend als griechenfeindliche Verschwörung dargestellt wird. Bei der Eröffnung des IOC-Kongresses konnte Staatspräsident Stefanopoulos sich nicht verkneifen, die „unsachliche Kritik aus dem Ausland“ zu geißeln, womit er implizit auch das IOC kritisierte. Aber gerade der Druck des IOC und die skeptischen Stimmen von außen haben die Athener Organisatoren zu den Leistungen angestachelt, die jetzt von einem Großteil der Presse als Triumph des „griechischen Improvisationsgenies“ gefeiert werden. Doch Genie reicht nicht aus. Auf den olympischen Bauplätzen musste das technische Know-how ausländischer Firmen hinzukommen, um zum Beispiel das spektakuläre Dach des spanischen Architekten Calatrava über dem Hauptstadion aufzuziehen.

Und noch etwas: Die olympischen Stätten wären niemals fertig geworden, wenn nicht zehntausende Arbeiter aus Asien und Afrika, aus sämtlichen Balkanländern und vor allem aus Albanien in den letzten Monaten tagtäglich 10 Stunden für 35 Euro geschuftet hätten. Und zwar unter Bedingungen, die allen internationalen Standards der Arbeitssicherheit Hohn sprechen, was – nach offizieller Zählung – 14 von ihnen mit ihrem Leben bezahlen mussten. Für diese Toten hat eine politische Randgruppe auf dem olympischen Gelände 14 Holzkreuze errichtet.

Das offizielle Griechenland hat den Beitrag der ausländischen Hände zum olympischen Spektakel niemals anerkannt. Während sich für die albanischen Freiheitskämpfer, die sich vor 180 Jahren im Kampf gegen die Türkenherrschaft zu Griechen ehrenhalber hochgearbeitet haben, in jeder Kleinstadt eine Statue findet, wird es ein Denkmal für den unbekannten albanischen Olympiabauarbeiter wohl niemals geben. Und die meisten Albaner werden froh sein, wenn sie nach den Spielen in Griechenland noch Arbeit finden. NIELS KADRITZKE