„Der Protest gegen Hartz wird weitergehen“, sagt Roland Roth

Montagsdemos sind auf dem besten Wege, eine soziale Bewegung zu werden, die nicht nur Hartz IV verhindern will

taz: Herr Roth, die Regierung hat bei Hartz IV leicht nachgebessert. Wird das die Montagsdemos spalten oder stärken?

Roland Roth: Das war so ziemlich das Dümmste, was die Regierung machen konnte. Denn so hat sie die Proteste weiter angeheizt – durch die beiden Zugeständnisse mit der gleichzeitigen Versicherung, es werden die letzten sein. Das eine gibt den Demonstranten Hoffnung, das andere wirkt als Provokation.

Sind die Montagsdemos nach diesem ersten Erfolg bereits eine soziale Bewegung?

Nein. Es ist ein sozialer Protest unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Aber es gibt außer der Negativagenda „Hartz IV muss weg“ bisher keine Gemeinsamkeiten. Eine soziale Bewegung entsteht erst, wenn es gemeinsame positive Ziele gibt. Die können sich jedoch im Laufe der Proteste herausbilden.

Gibt es schon erste Ansätze eines Programms?

Ja, denn die Proteste werden nicht nur wie in Magdeburg von Einzelpersonen initiiert. Im Hintergrund haben sich soziale Bündnisse und Sozialforen gebildet, in denen verschiedene Gruppen kooperieren. Die Demonstrationen sind nicht nur spontan, sie stehen nicht nur für die Wut Einzelner.

Parteien wie die PDS und die Linkspartei liebäugeln mit den Protesten. Könnte das die Proteste stabilisieren?

Es wäre wohl das Ende der Demonstrationen, wenn sie sie zu schnell parteipolitisch eindeutig werden. Je unabhängiger der Protest bleibt, desto eher wird er sich in eine soziale Bewegung verwandeln. Dazu muss er sich eine Selbstorganisationsstruktur geben, die unterschiedliche Protestmotive zusammen hält.

Die politische Orientierung der Demonstranten ist sehr verschieden. Wie sollen die sich auf gemeinsame Ziele einigen?

Ja, die Differenzen könnten momentan kaum größer sein. Der Initiator der Magdeburger Demos spricht von einer Liberalisierung der Märkte – und die PDS, NPD und andere Gruppen demonstrieren teilweise mit. Aber es wird Debatten über Alternativen zu Hartz IV geben müssen. An der Wahl des Montags zeigt sich bereits die Möglichkeit von Gemeinsamkeiten dabei.

Warum?

Mit dem Begriff Montagsdemonstration und der Parole „Wir sind das Volk“ verknüpft sich ein sozialer und ein republikanischer Anspruch. Wir wollen nicht zu Bürgern zweiter Klasse werden. Wir wollen am Wohlstand der Gesellschaft durch Erwerbsarbeit teilhaben.

„wir sind das Volk“ spielt auch auf die Bedeutung des Begriffs Demokratie an.

Ja. Das ist die politische Dimension. Die Demonstranten fühlen sich durch die Berliner Politik genauso wenig vertreten wie damals unter dem SED-Regime. Insofern ist der 3. Oktober als Termin für die Großdemo klug gewählt, weil er das Einheitsmotiv aufgreift – es geht um soziale die Einheit. Der Beitritt zum Grundgesetz versprach „gleichwertige Lebensbedingungen“.

Worin unterscheiden sich die Montagsdemos von jenen 1989?

Heute geht es nicht um eine Revolution. Der Protest soll die Politiker zur Einkehr bewegen. Die Demonstranten hoffen auf eine Kurskorrektur der Politik.

Im Westen haben die Demos kaum Erfolg. Warum ist der Protest ein Ost-Phänomen?

Im Westen gibt es noch eine stärkere Einbindung in sozialdemokratische und gewerkschaftliche Traditionen. Die Menschen haben auch nicht die Protesterfahrung der „friedlichen Revolution“. Das ist auch eine Frage der unterschiedlichen politischen Kultur in Ost und West.

Werden die Demos trotzdem nach Westen schwappen?

Ja, denn auch die Westdeutschen fühlen sich von den Parteien nicht vertreten. Sie könnten das Modell der Montagsdemos aus dem Osten übernehmen. Der Erfolg der Demos lässt auch viele im Westen hoffen, dass man doch etwas bewirken kann.

Was wird aus den Demos, wenn Hartz IV ab jetzt unverändert bleibt?

Die Proteste werden sich vermutlich verstärken und zivilen Ungehorsam einschließen. Wie bei den Demos gegen Arbeitslosigkeit 1998 als Arbeitsämter besetzt oder eingemauert wurden. Es ist ein demokratisches Wunder, dass trotz der enormen Wut friedlich protestiert wird.

Wann wird die Wut der Demonstranten zur Resignation?

Wenn die politische Klasse sich dauerhaft taub stellt und keine nennenswerten Veränderungen gelingen. Die Proteste sind erst der Anfang. Die Gelegenheit ist günstig, die ersten Risse in der politischen Klasse werden sichtbar – Politiker aller Parteien wenden sich immer mehr von Hartz IV ab. Das Verschicken der Fragebogen hat den ersten Aufschrei ausgelöst, weitere werden folgen.

Sie sind erstaunlich optimistisch.

Ich habe seit der Schröder-Rede zur Agenda 2010 auf diesen Protest gewartet. Nun könnte eine kritische Masse entstehen. Das ist wahrscheinlich, weil die klassischen Vertretungsorganisationen weggefallen sind: SPD, Gewerkschaften, Sozialverbände.

INTERVIEW: SASCHA TEGTMEIER