Tabulose Zone

Anschwellender Schwanengesang: In Israel gehören Nazivergleiche zur Politfolklore. Doch mit der drohenden Räumung jüdischer Siedlungen im Gaza-Streifen hat sich der Tonfall bedrohlich verschärft

von SUSANNE KNAUL

Mit dem drohenden Abzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen spitzt sich der Konflikt mit den Gegnern zu. Deren Tonfall wird nun merklich schriller: Manche der von der Evakuierung bedrohten Siedler stellen die Räumung ihrer Siedlungen bereits in eine Linie mit der Tempelzerstörung oder gar dem Holocaust, sprechen von der „Jahrtausende währenden Verfolgung der Juden“ und beschimpfen ihre mit der Räumung beauftragten Landsleute als „Kapos“ und „Judenräte“.

„Die Nazis sind eben das Modell für das Böse schlechthin, während die Holocaustopfer für das Opfer schlechthin stehen“, weiß der Publizist Ruvik Rubinstein von der liberalen Tageszeitung Ma’ariw. Noch vor vier Monaten schrieb er hoffnungsfroh: „Der billige und frustrierende, weit verbreitete Vergleich des Bösen, welcher Art auch immer, mit dem Holocaust, mit Hitler oder Deutschland scheint zurückzugehen.“ Diese Vergleiche seien einfach unbrauchbar, denn „weder Arafat noch Bin Laden sind Hitler, die israelische Armee ist nicht die SS“ und „die antiisraelische Propaganda stammt nicht aus der Feder von Goebbels“, so Rubinstein. Doch unter israelischen Politikern in Jerusalem hat sich das offensichtlich noch nicht herumgesprochen.

In der israelischen Politik sind Nazivergleiche keine Seltenheit. „Schlimmer als Hitler und Eichmann“ sei er, beschimpfte der Abgeordnete Jair Peretz von der orientalisch-orthodoxen Schas-Partei Anfang des Jahres den damaligen israelischen Oberstaatsanwalt Eliakim Rubinstein. Der Grund: Rubinstein hatte gegen Peretz einen Prozess wegen Korruption angestrebt. Auch Eli Ischai, der Chef der Schas-Partei, griff auf das gleiche Schmähvokabular zurück, als die Regierung über die Auflösung des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten entschied und die Gerichte der Rabbiner dem Ministerium für Inneres unterstellte. Diese Reform bedeute einen „spirituellen Holocaust für das jüdische Volk“, polterte Ischai.

Gerade aus dem Mund von Politikern, die einst aus arabischen Ländern einwanderten und deren Familien den Holocaust nicht selbst erlebt haben, klingen derartige Vergleiche etwas billig – in der Öffentlichkeit werden sie daher gerne als unpassende Übertreibungen politischer Hitzköpfe abgetan. Ganz anders war das, als Justizminister Tommi Lapid von der liberalen Schinui-Partei kürzlich die Zerstörung palästinensischer Häuser in Rafiach, unweit der Grenze nach Ägypten, durch die israelische Armee kritisierte. „Ich sah im Fernsehen, wie eine alte Frau in den Trümmern ihres Hauses nach ihren Medikamenten suchte“, sagte Lapid: „Sie erinnerte mich an meine Großmutter, die im Holocaust aus ihrem Haus vertreiben wurde.“

Lapids Kritik löste in Israel eine Welle der Entrüstung aus. Lapid ist der letzte Überlebende des Holocausts, der heute noch in der Knesset sitzt. Und er rührte damit an ein sensibles Thema: den Konflikt mit den Palästinensern. Premierminister Scharon rief den Justizminister für seine „inakzeptablen Äußerungen“ vor dem gesamten Kabinett zur Räson. Selbst die linksliberale Journalistin Irit Linor witzelte über den „alten Politiker“, der für seine politischen Zwecke „die Großmutter herzitiert“.

Bei allem Verständnis für den „instinktiven“ Griff zum Holocaustvergleich: „Er darf – egal in welchem Zusammenhang – schlicht nicht sein“, meint auch Ruvik Rubinstein. Doch wenn in den ersten Jahren nach der Shoah noch „ein Tabu“ die Politiker von Holocaustvergleichen abgehalten habe, so gebe es das heute nicht mehr: Insbesondere nicht im rechtsreligiösen Lager. „Judennazi“, bekam Jonathan Bassi zu hören, als er für die Leitung des von der Regierung eingesetzten Evakuierungsstabs für den Gaza-Streifen nominiert wurde. Schon gehen Gerüchte, dass die Siedler jene israelischen Soldaten, die ihre Häuser und Wohnanlagen räumen sollen, demonstrativ in KZ-Uniformen empfangen wollen.

Die Verwaltung des Siedlerblocks Gusch Katif im Gaza-Streifen streitet solche Pläne zwar ab – fest steht jedoch, dass sich die Rhetorik deutlich radikalisiert hat. „Die Siedler sind zornig und davon überzeugt, im Recht zu sein“, meint Ruvin Rubinstein. Das „religiöse Element“ bringe sie zu der Ansicht, „dass alles erlaubt und ihre Wahrheit die einzige schlechthin ist“. Wenn es überhaupt noch Tabus für die Rechte gegeben habe, dann „sind diese seit dem Mord an Jitzhak Rabin vor knapp zehn Jahren hinfällig geworden“.

Das sehen offizielle Stellen in Israel mit Sorge: Die Gefahr eines Anschlags auf einen israelischen Premierminister oder eines vergleichbaren Terrorakts sei schon lange nicht mehr so groß gewesen wie heute, berichtete die Zeitung Ha’aretz unter Hinweis auf den israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Beth.