Sein Kampf geht immer weiter!

Ex-DDR-Fluchthelfer Wolfgang Welsch gibt sich und Ex-Stasi-Spitzeln keine Ruhe: aus guten Gründen

von HELMUT HÖGE

Eigentlich sollte vierzehn Jahre nach dem Mauerabriss der Kampf zwischen Fluchthelfern und Stasispitzeln ausgekämpft sein. Aber nicht nur werden noch immer SED-Funktionäre wegen Mauerdelikten verurteilt, auch etliche SED-Geschädigte geben partout keine Ruhe. Wolfgang Welsch ist einer von ihnen. Immer mal wieder tritt er mit neuen Enthüllungen über seine einstigen Häscher an die Öffentlichkeit.

Zudem schrieb der Politologe auch Memoiren – über seine Haftzeit in der DDR und seine anschließende Tätigkeit als Fluchthelfer, auf den das Ministerium für Staatssicherheit gleich ein ganzes Dutzend Mitarbeiter ansetzte – einige gar mit dem Auftrag, ihn umzubringen. Titel: „Ich war Staatsfeind Nr. 1“ (Piper, München 2003, 448 Seiten, 10,90 Euro). Auch über seinen einstigen Gegner Michael Sievert veröffentlichte er kürzlich neue Details, nachdem er bei der Birthlerbehörde Näheres über dessen IM-Tätigkeit erfahren hatte.

Bei der Darstellung der Fluchthilfeaktivitäten bekommt man leicht den Eindruck, es handele sich bei Welsch um einen ebenso verbohrten wie größenwahnsinnigen Antikommunisten, dem alle möglichen CDU-Organisationen und -Politiker zuarbeiteten.

Welschs fast hundert DDR-Kunden, meistens Ärzte, schleuste er mit nagelneuen BRD-Pässen über Bulgarien per Kurier und Flugzeug aus dem Ostblock. Darüber hinaus bezahlte er einen arabisch aussehenden Diplomaten, der die Republikflüchtlinge per Mercedes von Berlin-Friedrichshain (Ost) nach Berlin-Kreuzberg (West) schleuste.

Das alles verschlang zigtausende von Mark. Welsch will dabei jedoch nur seine Unkosten ersetzt bekommen haben, obwohl er einen enorm aufwändigen Lebensstil im Westen entwickelte – Immobilien in Gießen und Weinheim, Antiquitäten, ein Domizil in Griechenland und ein Privatflugzeug.

Seine anfängliche Politisierung beginnt jedoch mit seinem eigenen vergeblichen Fluchtversuch sowie mit den sich daran anschließenden Verhören, dem Gerichtsprozess und den Haftbedingungen in DDR-Knästen. Welschs Schilderung der Praktiken seiner MfS-Ermittler und Gefängniswärter, die auch vor Foltermethoden nicht zurückschrecken, macht all seine späteren Macken – als Fluchthelfer im Westen – verständlich und relativiert sie auch, denn er kämpfte dabei quasi gegen einen ganzen Staat, mehr noch: gegen den Sozialismus weltweit. Man muss dabei durchdrehen und paranoid werden!

Schon einer seiner ersten Vernehmer sagte ihm: „Mir gefällt, dass Sie ein richtiger Feind sind.“ Die Richterin in Welschs erstem Prozess befand: Seine Flucht aus der DDR bei Boizenburg hätte leicht einen dritten Weltkrieg auslösen können – zwei Jahre Knast seien deshalb das Mindeste.

Beim ersten Versuch, aus dem Gefängnis einen Kassiber nach draußen zu schmuggeln, fällt er auf einen Spitzel herein – was einen weiteren Prozess zur Folge hatte. Diesmal wirft man ihm Spionage für die CIA vor. Seinem Rechtsanwalt Wolfgang Vogel gelingt es, diesen Strafvorwurf in „staatsgefährdende Hetze“ umzuwandeln. Dafür bekommt Welsch noch einmal zwei Jahre und drei Monate aufgebrummt – in Bautzen.

Bei seiner Entlassung 1967 stellt man ihn vor die Wahl: „BRD oder DDR?“ Welsch entscheidet sich heroisch gegen die Ausreise, weil er an Ort und Stelle Widerstand leisten will: Seine geheimen Knastaufzeichnungen sollen ihm als Grundlage für einen Dokumentarfilm dienen, der die DDR endgültig als Staat von „rot lackierten Nazis“ entlarvt. Bereits kurz nach Drehbeginn gerät Welsch jedoch erneut an einen Spitzel – und wird wieder verhaftet.

Das Gericht klagt ihn wenig später wegen Planung eines „hetzerischen Films“ an, auch Rechtsanwalt Vogel ist wieder dabei: Welsch bekommt weitere fünf Jahre. Während der Haft im Zuchthaus Brandenburg muss er Elektromotoren für die Rote Armee zusammenbauen. Mit einem anderen Häftling betreibt er dabei systematisch Sabotage.

1971 wird er mit 41 anderen Häftlingen von der BRD freigekauft. In Gießen beginnt er den Kampf gegen die DDR von außen, indem er ein „Otto-Institut“ für Fluchthilfe gründet. An der dortigen Uni wird er RCDS-Aktivist, Franz Josef Strauß bietet ihm Hilfe an. Nach jeder gelungenen Fluchthilfe merkt Welsch an: „Wieder war ich der Sieger.“

Beim MfS legt man derweil eine Akte „Skorpion“ über ihn an. Den ersten auf ihn angesetzten IM (Peter Haack) trifft Welsch während eines Griechenlandurlaubs: „Zwischen uns entwickelte sich eine echte Freundschaft.“ Eine fatale Freundschaft: Denn erst explodiert eine kleine Bombe während der Fahrt im Auto von Welsch, dann wird in England auf ihn geschossen, und schließlich versucht Peter Haack, die ganze Familie Welsch (Hilde und Wolfgang Welsch und deren Tochter) während eines Urlaubs in Israel mit vergifteten Buletten umzubringen.

Haack wird 1994 für diesen Mordversuch zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, sein Chef, der Leiter der Operation „Skorpion“, MfS-General Fiedler, erhängt sich in seiner Moabiter Zelle. Der hatte erwogen, die namibische Befreiungsorganisation Swapo auf Welsch anzusetzen, weil der angeblich „Kontakte nach Südafrika“ besaß und so als „politischer Provokateur und Waffenhändler im Dienst der südafrikanischen Rassisten“ dargestellt werden konnte. So weit kam’s aber nicht mehr, denn 1989/90 löste sich die DDR auf.

Bei Durchsicht seiner Akte in der Gauckbehörde entdeckte Welsch, dass auch seine Frau Hilde ihn verraten hatte. Überhaupt war die Szene der republikflüchtigen und freigekauften DDRler durchsetzt von Spitzeln. Und nicht nur Welschs bester Freund Haack wollte ihn umbringen, sondern auch das wohl übelste Subjekt dieses Milieus: Michael Sievert alias Manuel Leria de la Rosa.

Während der eine IM in Welschs Haus die Elektroleitungen als Freundschaftsdienst installierte, wobei er eine Wanze einbaute, besaß der andere IM die Schlüssel zu Welschs Haus. Sievert hatte sich dem MfS 1976 sogar freiwillig vom Westen aus als Spitzel angeboten. Weil man ihm anfänglich nicht traute, ging er in Vorleistung – und verriet eine Flucht nach der anderen (insgesamt etwa zwanzig), bis er schließlich doch noch Geld vom MfS für diese Jobs bekam. Von ihm kam auch der Vorschlag, Welsch zu ermorden, das MfS ging jedoch nicht darauf ein.

Zu Sieverts besten Freunden gehörte der ebenfalls aus der DDR stammende Fotograf Rolf Kersten. Der urteilt heute über ihn: „Er war sehr hilfsbereit und half allen Neuankömmlingen aus der DDR, die Hälfte von denen waren ja potenzielle Fluchthelfer, die sich rächen wollten, das war natürlich interessant für ihn als Spitzel.“ Sievert wurde dann Patenonkel für Rolf Kerstens Sohn. Und obwohl dessen Patentante durch Sievert in den Knast kam, wurde Rolf Kerstens Frau Sieverts Lebensgefährtin.

Sie lebt noch immer mit ihm zusammen in einer Finca in Spanien – und hält den Spitzel natürlich für einen feinen Menschen. Sievert fungierte später auch als Trauzeuge bei der Hochzeit von Wolfgang Welsch, als dieser seine spätere Verräterin Hilde heiratete. Als die Super-Illu 2002 ausführlich über diesen „Judas aus Leidenschaft“ berichtete, bekam der Redakteur anschließend tagelang Morddrohungen.

Neben Welsch und Kersten gehörte auch der Fotograf Christian Uhle zu Sieverts Freundeskreis. Uhle versuchte 1968 von Rumänien aus über die Donau zu fliehen, wurde aber geschnappt und zu 28 Monaten Haft verknackt. Im Cottbuser Knast lernte er Sievert kennen. Beide Häftlinge freundeten sich an. Uhle kam 1970 frei, stellte dann neun Ausreiseanträge und wurde 1974 endlich ausgesiedelt. Sievert war bereits 1972 von der BRD freigekauft worden. In Gießen trafen sie sich wieder, zogen aber dann nach Westberlin.

1975 wurde Uhle als Fluchtkurier in Ostberlin tätig: „Das reichte für mich, um die DDR zu schädigen und damit mein Gewissen zu beruhigen.“ Einen Spitzelverdacht gegenüber Sievert hegte er nie, „obwohl mir immer unklar war, woher er sein vieles Geld hatte. Gewundert hat mich auch, dass er wegen der antiquarischen Bücher ständig in die DDR und CSSR fuhr, zu einer Zeit, als die Ausgesiedelten eigentlich nicht mehr ins Land durften. In der Wende fuhr er oft nach Spanien, wo sein Vater lebte – ein seinerzeit bei Franco untergeschlüpfter alter Nazi, dessen Namen de la Rosa er später annahm.“ Als der Sachbearbeiter bei der Gauckbehörde kurz nach der Wende Sieverts Akte herausgab, murmelte er: „So’n dicker Hund ist mir noch nicht untergekommen!“

Wolfgang Welsch, der ihn in seiner überarbeiteten Biografie wenigstens erwähnen wollte, weil er wie Christian Uhle und Rolf Kersten daran interessiert ist, das ganze Ausmaß der Spitzeltätigkeit des „IM Alexander“ aufzuklären, hat inzwischen noch weiteren Stoff über Michael Sievert alias Manuel Leria de la Rosa gefunden: fünfhundert Aktenseiten, mit denen er neue Attacken gegen ihn plant.

HELMUT HÖGE, 55, ist der taz fast seit deren Gründung als Autor, früher auch als Redakteur verbunden. Mit Wladimir Kaminer schrieb er das Buch „Helden des Alltags“, Goldmann, München 2002, 160 Seiten, 14,90 Euro