Kein Anschluss an dieses Jahrtausend

Die Retro-Bewegung will sich in ihrer Verzweiflung nun sogar die 90er-Jahre erobern. Und vergisst dabei, dass diese Dekade noch gar nicht zur Vergangenheit zählt: Die Neunziger sind live, eine endloses Warten auf das Neue

VON MARTIN REICHERT

In Australien feiert man bereits Geburtstag unter dem Motto „The Nineties – Safely Retro“, ganz vorsichtig also und nicht ohne in der Einladung die Frage zu stellen: Was waren deine schönsten Erinnerungen an die Neunziger? Selbstverständlich wird in der kommenden Fernsehsaison Oliver Geißen für RTL die „90er Show“ moderieren und ebenfalls versuchen, diese Frage zu beantworten. Es war ja nur eine Frage der Zeit, wir schreiben bereits das Jahr 2004. Absurd daran ist, dass uns diese „Timetainment“-Show in eine Zeit zurückführen wird, die gar nicht vergangen ist und vergehen kann, weil sie den Beginn einer totalen Auflösung von greifbarer, strukturierbarer Popkultur einläutete. Neunziger-Retro kann nur bedeuten, dass jeder weiterhin macht, was er will, denn „anything goes“ war definitiv die zentrale Aussage der Neunziger. Eine kollektive Erinnerung an die Neunziger kann es deshalb nicht geben.

Damals, vor dem Zusammenbruch der New Econony und dem des World Trade Centers, damals in der Ära Helmut Kohl, als der Beginn der Zukunft mit dessen Abgang verknüpft wurde. Diese nahe Zukunft ist nun längst da und offenkundig so schwer zu ertragen, dass nur noch die Rückbesinnung Abhilfe schafft. Fast möchte man sagen: „Wir wollen unseren alten Helmut wiederhaben.“ An seiner Stelle regiert die Generation 1968, von der Roger de Weck einst gesagt hat, dass sie zunächst ihre Eltern und dann ihre Kinder schlecht geredet hat.

Anfang der Neunziger hatte man der so genannten „Generation X“ (Douglas Coupland), die es in dieser Eindeutigkeit allerdings noch nie gegeben hat, bereits mitgeteilt, dass sie niemals den Wohlstand ihrer Eltern erreichen würde. Nun sind die damals zum Abitur geschenkt bekommenen VW Golfs und Polos in der Tat alt und rostig, sie wurden bislang nicht ersetzt, denn nach nicht abgeschlossenem Langzeitstudium, gescheiterter Start-up-Gründung und unbezahlten Praktika ist noch kein Geld reingekommen, um eine Neuanschaffung zu tätigen. Ganz zu schweigen von den vielen, die noch nie einen Golf hatten.

Couplands Weisheiten wurden zwischenzeitlich nur verdrängt: Das Internet, das Anfang der Neunziger noch ein Nischendasein an den Universitäten geführt hatte, sollte die Lösung sein. Reich werden, ohne zu arbeiten. Geblieben ist nur das Nichtarbeiten. Und das Internet ist, was es eigentlich immer war: ein Tool.

Die Gegenwart inszeniert sich als endlose Warteschleife, bestehend aus Fünfziger-, Sechziger-, Siebziger-, Achtziger-Retro-Anleihen. Doch während die Verklärung der Achtziger die um die Dreißigjährigen zurückführt in die wohlbehütete Teenagerzeit, bedeutet Neunziger-Retro, an die Zeit des Flüggewerdens anzuknüpfen, als man noch im Besitz aller Kräfte, Kopfhaare und Hoffnungen war. Neunziger-Retro ist die beste Lösung, denn da den wirklich Jungen auch nichts Besseres einfällt, kann die eigene Jugend endlos ausgedehnt und fast übergangslos weitergeführt werden. The Strokes zu hören bedeutet, sich eins zu fühlen mit der glorreichen eigenen Vergangenheit im Late Eighties Underground, der irgendwann zu Grunge übergeführt hatte, ohne den Anschluss an das Jetzt zu verlieren. Es mag für so manchen eine Erleichterung sein, nach all den Jahren kühlen Elektro-Sounds wieder emotional gefärbte Musik hören zu dürfen, ohne das Gefühl zu haben, irgendwie hängen geblieben zu sein. Hängen bleiben wie die Typen aus den Achtzigern mit ihrem Alternativ-Look, das will man auf keinen Fall, muss man auch nicht: Einfach den selbst gelebten Lifestyle vergangener Tage zum Nonplusultra erklären und einen Retro-Hype daraus machen. Wenn in der Gegenwart nichts ist, dann muss eben die Vergangenheit zur Gegenwart werden.

Die späten Twentysomethings und die frühen Dreißigjährigen werden von dieser Gesellschaft nicht gebraucht, sie erfüllen keinen Zweck und erheben daher ihre de facto nicht mehr vorhandene Jugendlichkeit zum Selbstzweck. Dreißig, zwei Kinder und „total groovy drauf“: mit dem dreirädrigen Trekking-Kinderwagen in den Coffee-Shop um die Ecke, Latte schlürfen, abends in die Clubs, Live-Konzerte anhören. Jacke: Addidas, wie Mitte der Neunziger, Sneakers: Converse Chucks, wie Anfang der Neunziger.

Neunziger-Retro bedeutet eine emotionale Rolle rückwärts in die Zeit vor Elektro, vor New Economy, vor „Gucci Gucci Gucci“. Retro bedeutet immer eine Suche nach Authentizität, Neunziger-Retro bedeutet ein Ankommen in der eigenen Diffusion, der eigenen Nicht-Authentizität: Addidas verwies schon damals auf die Siebziger, Converse Chucks auf die Sechziger. Schon damals wurde die eigene Identität aus Zitaten zusammengebastelt, kam die Aussage „Ich liebe dich“ nicht mehr über die Lippen, weil die Anführungsstriche mitzusprechen bei diesen Worten als dann doch zu ironisch empfunden worden wäre. So könnte man die heute Zwanzigjährigen auch als Generation „Hab dich lieb“ bezeichnen. Das derart relativierte Bekenntnis ist aus ihren Mündern allenthalben zu hören, es wird nur nicht eingelöst.

Da nahezu alle ursprünglich jugendlichen Räume bereits besetzt sind, von den Dreißigjährigen, Vierzigjährigen, Fünfzigjährigen, bleibt jenen nur der Rückzug auf die eigene straffe Körperlichkeit, die zu kopieren allenfalls die Dreißigjährigen noch schaffen, mittels Fitness-Studio. Die heutigen Debütanten sind noch alleiner mit sich selbst und fast bar jener leidenden Sehnsucht, die noch kennzeichnend für die „dernières romantiques“ war, einer jener dissidentischen Unterabteilungen der mainstreamigen, jurastudierenden „Generation Golf“ des Florian Illies.

Einen eigentlichen Generationskonflikt gibt es jedoch nicht: Jeder macht bei jedem Anleihen. Die Jungen bedienen sich aus dem reichhaltigen Fundus der Popkultur vergangener Dekaden, die von den Älteren bloß weitergelebt werden muss. Da kann man locker zusammen zum White-Stripes-Konzert fahren. Deutlich wird diese Entwicklung auch in der parallel immer weiterlaufenden Techno-Szene, in der das Alter der Protagonisten überhaupt keine Rolle spielt. Die Musik umklammert hier ganze Generationen, die heute bereits in Fünf-Jahres-Kohorten gemessen werden. Doch Techno ist kein Futurismus mehr, Techno ist längst die Fortsetzung der Dorfdisse mit anderen Mitteln. Originäre Ausdrucksweisen gibt es im Moment nicht, weder in der Mode noch in der Musik, alles ist Retro, alles ist Warteschleife.

Gemeinsam in der Warteschleife sitzen und auf das Neue warten, das ist Neunziger-Retro. Warten auf das Ende der Ära Kohl, warten auf das Millennium, warten, dass etwas passiert. Neunziger-Retro ist, wenn die Katze sich in den eigenen Schwanz beißt und so verharrt. Ein Stillstand, der durch Beschleunigung erfolgt ist, durch eine immer schneller aufeinander folgende Auslösung von Retro-Wellen, Cover-Versionen und Comebacks. Die erste Dekade des neuen Millenniums ist verhaftet im Fin de siècle, sie blickt zurück und verknüpft die Gegenwart mit der Vergangenheit, es ist eine Zeit der kollektiv Hängengebliebenen. Eine Zwischenzeit, die der erlösenden 20er-Jahre harrt, in denen es hoffentlich ordentlich röhrt.

Neunziger-Retro braucht gar keine eigene TV-Show. Neunziger-Retro ist live, ist Hier und Jetzt. Ist Privatsache, ist ein vor sich hin wurschteln in der eigenen Sloterdijk’schen Seifenblase. Der Hype besteht darin, nicht zu wissen, wie es weitergeht, mit Wort- und Bedeutungshülsen zu hantieren und Angst vor der Zukunft zu haben. Anything goes und niemand kriegt’s mit.