Klassenfahrten und andere Katastrophen

2,1 Millionen Menschen, die bisher Arbeitslosenhilfe bezogen, leben bald unter Sozialhilfebedingungen. Für ihre Kinder kann das heißen: Beiträge für Sportclubs oder neue Fußballschuhe sind nicht mehr drin. Kinderschutzbund: Tendenz zur Isolation

AUS BERLIN HEIDE OESTREICH

Frau Kraft kocht manchmal Fantasie-Essen. Nach dem zwanzigsten eines Monats wird bei den Krafts regelmäßig das Geld knapp. Dann muss die Fantasie helfen, sich beim Essen etwas anderes vorzustellen, als gerade auf dem Teller ist. Ihr Sohn findet, „das schmeckt scheußlich“.

Das ist der Alltag von Menschen in Deutschland, die von der Sozialhilfe leben. Die Arbeiterwohlfahrt hat dieses Leben und die Auswirkungen der Armut auf Kinder untersuchen lassen. Vor dieser Armut fürchten sich hunderttausende. Denn mit dem Arbeitslosengeld II landet man auf der Höhe der alten Sozialhilfe. Sozialhilfeempfänger gelten schon lange als arm. Seit zehn Jahren wird die Stütze nicht mehr an die Preisentwicklung angepasst und liegt deshalb nach Berechnungen von Sozialverbänden um etwa sechs Prozent unter dem „gesellschaftlichen Mindestbedarf“.

In der Berechnung der Sozialämter sind Wünsche wie Fahrstunden für Kinder nicht enthalten. Oder Beiträge für einen Sportverein, die Musikschule, eine Geburtstagsfeier oder Fußballschuhe. All dies haben Verwaltungsgerichte bereits entschieden. Auch „der zusätzliche Materialbedarf eines Schülers, der aus seiner Teilnahme an einer freiwilligen Schul-AG resultiert“, muss aus dem Regelsatz beglichen werden. So urteilte das Bundesverwaltungsgericht 1996. Vieles, was man Kindern normalerweise bieten will, um ihre Entwicklung zu fördern, können Menschen vergessen, die vom Regelsatz leben.

Ohne Geschenk fällt der Kindergeburtstag aus

Ab Januar 2005 werden das nicht mehr nur Sozialhilfeempfänger sein, sondern auch etwa 2,1 Millionen Menschen, die bisher Arbeitslosenhilfe bezogen. Knapp die Hälfte von ihnen hat Kinder. Zu Beginn können sie noch von Übergangszuschlägen und dem Vermögen zehren, das sie behalten dürfen. Dazu zählen auch die gerade nachverhandelten 4.850 Euro Freibetrag pro Kind. Hat man das Vermögen aufgebraucht oder wirklich fest angelegt, bleibt der Regelsatz. Der kann nur dann nennenswert aufgestockt werden, wenn man einen Ein-Euro-Job ergattert. Aus zusätzlichen Minijobs dagegen kann nicht viel behalten werden. Wo das nicht klappt und die Alternative Schwarzarbeit wegfällt, werden auch Alg-II-Kinder von Handy, Discman oder Reiterferien in Zukunft nur träumen können.

„Die klassische Folge ist Isolation“, erklärt Sabine Walther vom Kinderschutzbund Berlin. Kinder gehen nicht zu Geburtstagen, weil sie kein Geschenk kaufen können. Vor der Klassenfahrt werden sie krankgemeldet. Sie fahren schwarz mit der U-Bahn – und schon sind sie eingestiegen in eine Karriere der Illegalität, die in Kleinkriminalität enden kann. „Normalverdiener können sich nicht vorstellen, dass es bei anderen eine Diskussion darüber gibt, ob man eine oder zwei Scheiben Wurst auf dem Brot hat“, beschreibt Walther die Lebenswelt der Armen. Oder dass Eis unerschwinglich wird – wenn eine Kugel einen Euro kostet.

Als Gegenmittel gegen verarmende Kinder preist das Familienministerium den „Kinderzuschlag“, den das Hartz IV-Gesetz ab 2005 einführt. Der allerdings gilt nicht für Alg-II-Bezieher, sondern nur für berufstätige Eltern und ist ein Ersatz für die bisherige „ergänzende Sozialhilfe“. Eltern, die sich selbst mit prekären Jobs über Wasser halten können, ihre Kinder aber nicht, dürfen maximal 140 Euro pro Kind im Monat bei der Familienkasse beantragen. „Zusammen mit dem Kindergeld in Höhe von monatlich 154 Euro und gegebenenfalls Wohngeld deckt er den durchschnittlichen Bedarf von Kindern“, rechnet das Ministerium schriftlich vor. 150.000 Kinder sollen so dem Alg-II-Schicksal entgehen. Eine Alleinerziehende mit einem Teilzeitjob und einem Verdienst von 680 Euro käme dank Kinderzuschlag und Wohngeld über die Runden, so eine andere Beispielrechnung.

Die Rechnung verschweigt allerdings, dass für diese Gruppe dieselben Bedürftigkeitskriterien gelten wie für die Alg-II-Empfänger: „Einkommen und Ersparnisse von Eltern und Kindern werden angerechnet“, bestätigt Ministeriumssprecherin Susanne Amann. Die Antragsbögen seien noch nicht entwickelt, würden aber sicher an die Fragebögen zum Alg II angelehnt, meint die Sprecherin.

Minijobbende Eltern müssen also ebenfalls ihre Vermögen abschmelzen, Lebensversicherungen auflösen, unter Umständen umziehen und sogar Ausbildungsversicherungen für ihre Kinder auflösen, wenn die einen Wert von 4.850 Euro übersteigen.

Kleines Trostpflaster im Hartz-IV-Gesetz: „Für Klassenfahrten, Wohnungsbrände und andere Katastrophen“, so ein Sprecher, gibt es immer noch Sonderzuwendungen – für alle.