Jargon des Aktivismus

Für viele Manager und Politiker ist Deutschland eine marode AG. Lohnkürzungen und Export von Arbeitsplätzen sollen sie retten. Doch die Volkswirtschaft ist komplexer

Es gibt immer nur eine Lösung. Wirkt sie nicht, hat man nur noch nicht genug Leidensdruck

Die Finanzmärkte stimmen über die Politik der Regierungen ab. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit, der Export sind der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Fürs gleiche Geld mehr und länger arbeiten, heißt die Lösung. Die Kosten für die staatlichen Leistungen müssen runter. Abbau des staatlichen Angebots und Steuersenkungen sind angesagt. Die Quersubventionierung von ganzen Bereichen der Gesellschaft durch den Staat muss aufhören. Er soll sich auf seine Kernkompetenzen konzentrieren.

Für die Deutschland AG würden demnach dieselben Regeln wie für jedes Unternehmen gelten. Der öffentliche Haushalt muss ausgeglichen sein, ohne Schulden. Etwaige Gewinne, Überschüsse im Haushalt von Bund, Ländern und Gemeinden, sind als Steuersenkung an die Aktionäre der D-AG auszuzahlen. Das stärkt den Wettbewerb zwischen den armen und den reichen Ländern. Was dieser Unternehmenskultur im Wege steht, muss reformiert, beseitigt werden. Damit die D-AG profitabel wächst.

Nur ein Kern der Staatstätigkeit ist unantastbar: die Durchsetzung, die Verteidigung und der Schutz der Bürger- und Eigentumsrechte, also der Marktwirtschaft, nach innen und außen. Ordnung ist Sache der Politik, nicht des Marktes: Justiz, Polizei und Armee sind normativ nicht privatisierbar, nicht unternehmerisch mit Gewinn realisierbar, eben nicht marktgängig wie Arzt, Lebensversicherung und Lehrer, wie Gesundheit, Rente und Ausbildung.

Diese hier persiflierte politische Alltagsrhetorik des marktwirtschaftlich und besitzindividualistisch beherrschten Verständnisses von Staat und Gesellschaft bedient sich der Fachsprache und des aktivistischen Jargons der Betriebswirtschaft – also eines Studiengangs, der den Staat wie ein Unternehmen am Markt betrachtet und nach solcher Performance beurteilt. Die diese Fiktion nachplappernden Akteure wissen regelmäßig nicht, was mit den entlehnten Begriffen konkret gemeint ist.

Wer betriebswirtschaftliche Begriffe auf den Staat anwendet, suggeriert damit, dass der Staat, die Gesellschaft, die Volkswirtschaft funktioniere wie ein Unternehmen. Motto: Was gut ist für Daimler, ist gut für die Deutschland AG.

Beispielsweise so viel wie möglich zu exportieren und durch Verlängerung der Arbeitszeit die Einkommen zu senken. Sich auf seine Kernkompetenzen zu besinnen und unrentable Geschäftsfelder zu verkaufen oder stillzulegen. Shareholder-Value und dynamisch wachsende, selbstbestimmte Mindestverzinsung des eingesetzten Kapitals sollen regieren, weshalb die Finanzmärkte und nicht die Bürger über die Politik abstimmen.

Nur: Der Staat ist kein Unternehmen; diese Einsicht erschließt sich schlichtem Nachdenken. Unternehmen, die Pleite machen, scheiden aus der Welt der Wirtschaft, aus dem Markt aus. Staaten, die zahlungsunfähig werden, verschwinden nicht.

Auch das Besinnen auf die profitable Kernkompetenz führt beim Staat nicht sehr weit. Unsere neuen Bundesländer werden auf unabsehbare Zeit mit mehr als 80 Milliarden Euro alle Jahre wieder von den alten Bundesländern „quersubventioniert“. Kann man die ehemalige DDR verkaufen? Wie Daimler damals Dornier? Weder theoretisch noch praktisch. Die wachsende unproduktive alternde Bevölkerung ist ein unprofitabler Personalüberhang. Kann sich die Republik von ihren Alten trennen, wie ein Unternehmen sie frühverrenten und ausbuchen? Auch nicht.

Durchschnittliches Denkvermögen und der kleine Volkswirtschaftsschein, den Juristen im Studium nebenbei machen, freilich reichen nicht aus, betriebswirtschaftliche Kostenkategorien im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf zu beurteilen. Für Kosten gilt betriebswirtschaftlich: Ihre Senkung bringt dem Unternehmen immer zunächst Vorteile gegenüber Wettbewerbern. Blickt man aber über das Einzelunternehmen hinaus, dann wird im Kreislauf der Güter und des Geldes aus den Zinskosten des einen des anderen Rente; der Gewinnaufschlag des einen treibt die Wareneinsatzkosten des anderen in die Höhe. Die Lohnkosten eines Kfz-Betriebs können etwa als Umsatzerlös der benachbarten Metzgerei auftauchen.

Im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf, in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sind Kosten der einen immer zugleich Einkommen der anderen. Negative Lohnpolitik zum Beispiel kann, je nach den Umständen, für das gesamtwirtschaftliche Wachstum und die künftige Beschäftigung nützlich oder schädlich sein. Wenn Bundeskanzler und Superminister negative Lohnpolitik schlicht für vernünftig erklären, so agieren sie als gelernte Juristen wie Betriebswirte.

Lohnzurückhaltung soll seit 20 Jahren zu mehr Beschäftigung führen. Ergebnis: Re-kordarbeitslosigkeit

Verantwortlich aber sind die beiden für die Gesamtwirtschaft. Die Arbeitslosigkeit verharrt dort auf hohem Niveau, die Inlandsnachfrage nach Investitions- und Konsumgütern stagniert. Der Überschuss im internationalen Handel hingegen klettert 2004 von Rekord zu Rekord, nachdem er 2003 schon 130 Milliarden Euro überschritten hatte. Seit 20 Jahren bleiben in Deutschland die Reallohnerhöhungen hinter dem Zuwachs der Arbeitsproduktivität zurück; jede Arbeitszeitverkürzung wurde mit einem Verzicht auf sonst verteilungsneutral finanzierbare Lohnerhöhungen entgolten. Diese Rezeptur der Lohnzurückhaltung soll seit 20 Jahren zu mehr Beschäftigung führen. Ergebnis: Rekordarbeitslosigkeit alle Zyklen wieder. Mit unentgeltlicher Arbeitszeitverlängerung wird dieser Umverteilungsprozess von der Arbeit zum Kapital weiter forciert; das relativ sinkende Lohnniveau wird den Export antreiben, die Inlandsnachfrage wird weiter stagnieren, so das Wachstum begrenzen und die Erwerbslosigkeit forcieren, indem die einen immer länger und die anderen immer länger nichts zu arbeiten haben. Man sieht, die Lohnkostensenkung hätte gesamtwirtschaftlich nur Sinn, wenn das Lohnniveau mit Blick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu hoch wäre. Das Gegenteil aber trifft zu.

Gesamtwirtschaft ist komplexer als Betriebswirtschaft. Die täglichen Erfahrungen mit der Wirtschaft machen Politiker wie die meisten anderen als Käufer oder Arbeitnehmer – und wenn sie wichtig genug sind, wird ihnen von der Managerelite betriebswirtschaftlich Nachhilfe privatissime gewährt. Volkswirtschaft kann man eigentlich nur abstrakt aus Büchern lernen, nicht wie Betriebswirtschaft im täglichen Leben erfahren: So gilt das Schlichte und Bequemere als das eher Wahre, so interessengeleitet es auch sein mag.

Paul Watzlawick, der berühmte Psychiater, bietet in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ eine Erklärung für den Handlungszwang der Mainstream-Verkünder an. 20 Jahre Löhnesenken fällt unter seine Kategorie des „Mehr-desselben-Rezepts“: Es gibt immer nur eine Lösung. Wirkt sie nicht, hat man nur noch nicht genug Leidensdruck. Offenbar können ökonomische Rezepte neurotisch machen – wenigstens ein Markt, der „Spezialisten ein gutes Ein- und Auskommen bietet“ – und Arbeitsplätze … CLAUS NOÉ