Die müde Republik

Bis vor wenigen Jahren war die SPD eine programmstolze Partei. Heute weiß keiner mehr, was sie will. Der CDU reicht es halt, „bürgerlich“ zu sein. Mehr erwartet niemand

Die CDU ist in ihrer Wählerschaft proletarischer geworden, an der Spitze jedoch bürgerlicher denn je

Natürlich: Zur Halbzeit von Legislaturperioden stehen Regierungsparteien meist schlecht da. Das war bei Adenauer, Brandt und Kohl nicht anders. Aber die Krise der SPD ist strukturell und anhaltend. Denn die Partei verliert in diesen Monaten, was sie einst stark und stolz gemacht hat, weshalb sie überhaupt 140 Jahre alt wurde. Früher waren der SPD ihre proletarischen Kerntruppen selbst in schlimmsten Krisenzeiten, auch noch in den frühen 1930er-Jahren treu. Partei der Arbeiterklasse zu sein – das war für die SPD Ethos und Mission. Jetzt aber ist rund ein Fünftel der unteren Schichten dieser Republik ihrer früheren Partei abtrünnig geworden, sind in die politische Apathie gefallen oder gar in das Lager der CDU gewechselt.

Bis vor einigen Jahren war die SPD bekanntlich noch eine programmstolze Partei. Sie besaß Vorstellungen von der Zukunft, von einer gesellschaftlichen Alternative. Davon war gewiss vieles weltfremd und versponnen, aber der utopische Überschuss motivierte, beflügelte ihre Mitglieder und Anhänger. Heute wissen die Sozialdemokraten nicht, welche politische Ethik und Begründungen noch – vor allem: wie lange jeweils – gelten. Eben das hat die einst so engagierten Kerntruppen der SPD „entmündigt“, hat sie sprach- und ziellos gemacht. Früher kannte man seinen sozialdemokratischen Kollegen, Nachbarn und Freund als einen hoch aktiven, diskussionsfreudigen, leidenschaftlichen, auch freundlichen Menschen. Heute hingegen wirkt er ratlos, ja, oft verbittert und übellaunig. Aber wer gibt schon einer Partei die Stimme, die erkennbar nicht mit sich selbst im Einklang lebt, die mit sich fremdelt?

Nun ist es nicht so überraschend, dass Regierungsparteien allmählich erschlaffen und das Feuer des Neuanfangs verlieren. So war es bei den Sozialdemokraten schließlich auch schon zum quälenden Ende der Ära Schmidt vor gut zwanzig Jahren. Aber man bemerkte damals, dass da auch etwa Neues nachrückte, dass da eine junge Generation lustvoll drängelte und zumindest an Zäunen rüttelte, mit der erwartbaren Hybris politisch neue Ansprüche anmeldete.

Davon allerdings ist heute partout nichts zu sehen. Wohin man auch blickt, man erkennt in der Partei nicht das künftige Leittier – abgesehen vielleicht von jenem unruhig rochierenden Schwergewicht aus Goslar. Vergeblich sucht man den konzeptionell brillanten Außenpolitiker für das Jahr 2010, den originellen Sozialpolitiker für die postindustrielle Gesellschaft oder auch den modernen Ökologen, der die neuen Mittelschichten beeindrucken und von den „Grünen“ zurückholen könnte.

Die SPD ist ausgeblutet wie wohl noch nie in ihrer Geschichte. Deswegen gibt es in diesen Tagen auch keine Palastrevolution gegen Schröder, Clement oder Schily. Die Sozialdemokraten haben einzig die Hoffnung, dass irgendwann die Agenda-Reformen zünden, dass man die Früchte von Hartz und alledem doch einmal wird ernten können, vor allem: dass in Bälde möglichst die gegnerische CDU heftige Probleme bekommen wird.

Und das scheint ja nicht einmal gänzlich unrealistisch zu sein. Gewiss, lange lief es wunderschön für die CDU. Über Monate brauchte sie bloß passiv zuzuschauen, wie die SPD zerfiel und der Bundesregierung wenig gelang. Die Enttäuschten und Verdrossenen liefen der Union einfach zu, ohne dass sie mit klugen Konzepten und brillanten Ideen hätte locken und überzeugen müssen. Im März dieses Jahres maßen die Meinungsforscher schon 51 Prozent für CDU/CSU. Der Wahlsieg – spätestens – 2006 schien Angela Merkel und Edmund Stoiber sicher.

Doch dann, im späten Frühjahr rutschte die Union Monat für Monat in den Umfragen ab – auf nunmehr 43 Prozent. Auch bei den Europawahlen fehlten ihr plötzlich 1,2 Millionen Wähler von 1999. Und bei den Kommunalwahlen in Sachsen und Baden-Württemberg büßte sie bis zu 9 Prozentpunkte ein. Rot-Grün erholte sich keineswegs; aber die große schwarze Alternative schwächelte plötzlich.

Vergeblich sucht man den originellen SPD-Sozialpolitiker für die postindustrielle Gesellschaft

Was also ist los mit der CDU; wo steht sie? Im Grunde hat sie ähnliche Probleme wie die SPD. Die SPD begann zu schrumpfen, als ihre industriellen Hochburgen an Bedeutung verloren. Die Christdemokraten bekommen Probleme, weil immer weniger Menschen in Deutschland noch treue Kirchgänger und lebenslang stationäre Heimatverbundene sind. Das nimmt der CDU ihre loyalsten Anhänger. Und wie die SPD so verliert auch die CDU dramatisch an Mitgliedern, in den letzten 10 Jahren waren es immerhin 100.000. Was übrig geblieben ist, wirkt nicht sonderlich modern und jugendfrisch. Das typische CDU-Mitglied ist 58 Jahre, männlich, patriarchalisch, provinziell und mittelständisch. Frauen mit Abitur und Hochschulabschluss, emanzipiert und selbstbewusst, findet man derzeit ebenso wenig in der CDU wie WählerInnen zwischen 30 und 50.

Dafür hat die CDU bei den letzten Wahlen etliche Arbeiter gewonnen, die sich bitter enttäuscht von der SPD abgewandt haben. Das kam einer Revolution in der deutschen Wahlgeschichte gleich. Die bürgerliche Union avancierte zur Mehrheitspartei der Arbeiter zwischen Bayern und Nordsee. Bei den letzten Landtagswahlen erzielte die Union ihre kräftigsten Zuwächse bei den „gering Gebildeten“. Doch eigentlich weiß die CDU mit dem neuen, fremden Wählerzuwachs aus den Unterschichten nichts anzufangen. Die alten katholischen Sozialreformer und Verbände existieren kaum noch. Ein moderner Blüm ist nicht nachgewachsen.

Die CDU ist in ihrer Wählerschaft wohl proletarischer geworden, an der Spitze jedoch bürgerlichen denn je. Und so gedieh in der christdemokratischen Führung der letzten Monate der ehrgeizige Gedanke, einen Masterplan für die neuliberale Umstülpung des altbundesdeutschen Sozialstaats aufzustellen. Die Ökonomie- und Interpretationseliten der Republik applaudierten begeistert. Die neu gewonnenen Arbeiter indessen bekamen es angesichts von Kopfpauschalen und Kündigungsschutzlosigkeiten Marke Merz/Merkel mit der Angst. Sie fürchteten nun, vom Schröder’schen Regen in die christdemokratische Traufe geraten zu sein und wandten sich in diesem Sommer 2004 von der neubürgerlichen CDU Zug um Zug ab.

Doch ob wir damit eine christdemokratische Kopie der sozialdemokratischen Malaise erleben werden, ist dennoch fraglich. Denn während die Sozialdemokratie im Laufe der letzten Jahre allmählich ihren sozialen, kulturellen und politischen Ort verlor, hat die Christdemokratie ihren Fixpunkt auf all diesen drei Ebenen im „Bürgerlichen“ fest gefunden. Christdemokratische Aktivisten zählen sich von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Habitus und ihrer politisch-ökonomischen Orientierung prononciert zum deutschen Bürgertum. Der christdemokratische Aktivist weiß mithin, wo sich sein Platz befindet.

Der geringe Zuspruch zu ihrem Reformprogramm – drei Viertel der Bevölkerung lehnen die CDU-Postulate zur Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik ab – illustriert, dass die Union in Zukunft einige Probleme bekommen wird. Dies wird sich schon bald auch negativ auf die Wahlergebnisse auswirken. Aber die Union wird dennoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das gleiche Drama wie die SPD durchleben, da eine bürgerliche Politik der CDU an der Regierung mit den Ansprüchen und Erwartungen des bürgerlichen Kerns der CDU eben übereinstimmt. Die Agenda-Politik Schröders hat dagegen die biografisch anders geprägten Multiplikatoren der Sozialdemokratie verwirrt und schließlich deaktiviert. Eine bürgerliche Wirtschafts- und Sozialreform einer Kanzlerin Merkel wird den bürgerlichen Kern der CDU weniger irritieren, sondern eher in Bewegung setzen. Insofern dürfte die CDU nicht in die gleiche abgründige Identitätskrise rutschen wie die SPD.

Wer gibt schon einer Partei die Stimme, die erkennbar nicht mit sich selbst im Einklang lebt

Doch ihr Status als Volkspartei ist zweifelsohne gefährdet. Die bürgerliche Borniertheit der CDU – weniger der CSU – wird den Wähleranteil der Union schrumpfen lassen. Eben das mag das bürgerliche Lager dann doch aufscheuchen. Denn die einseitige Verbürgerlichung gefährdet die Macht. Die Macht aber hat die Christdemokratie in Deutschland immer ganz groß geschrieben, stets verlässlich auf den ersten Platz ihrer politischen Agenda gesetzt. Für die Macht wird auch die neuliberale CDU der Frau Merkel, wenn die großen Wahlkämpfe anstehen, den einen oder anderen der letzten Herz-Jesu-Sozialisten aus den eigenen Reihen wieder aus der Versenkung hervorholen.

FRANZ WALTER