„Der Sozialstaat geht kaputt“, sagt Norbert Blüm

Hartz IV wird zum Symbol für die Fehler von Rot-Grün: unten kürzen, oben die Steuern senken. Der Protest dagegen ist mehr als richtig – und wird noch stärker. Denn die Unternehmer glauben offenbar, der Sozialstaat werde versteigert

taz: Herr Blüm, finden Sie die Forderungen der Montagsdemonstranten „Hartz IV muss weg“ zu sehr schwarz-weiß gemalt?

Norbert Blüm: Angesichts der Schwarz-Weiß-Malerei der Neoliberalen sind die geradezu differenziert. Da sind die Montagsdemos chinesische Pinselzeichnungen im Vergleich zu den holzschnittartigen Debattenbeiträgen der Arbeitgeber und ihrer neoliberalen Messdiener.

Warum gehen 90.000 gegen Hartz IV auf die Straße?

Wir haben es mit einer Angstwelle zu tun. Die Leute wissen nicht, wohin es geht. Jeden Tag kommt eine neue Idee der Politik. Wie auf dem Jahrmarkt – das Zeitalter der politischen Schausteller hat begonnen. Die Menschen demonstrieren nicht nur gegen Hartz IV. Das ist nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Wort Reform hat zwei Bedeutungen bei uns bekommen: In der Sozialpolitik heißt es Kürzungen und in der Steuerpolitik Entlastungen für die Spitzenverdiener. Die Leute bekommen das Gefühl, dass hier was nicht mit rechten Dingen zugeht.

Geht es auch darum, dass der Osten sich „zweitklassig“ fühlt, wie Herr Platzeck sagt?

Es geht doch nicht nur um den Osten. Es geht um die Sozialpolitik. Die ist inzwischen zum Putzlappen geworden, an dem jeder seine Füße abstreift.

Läutet die Regierung das Ende des Sozialstaates ein?

Dass Änderungen nötig sind, bestreitet kein Mensch. Aber eine Sache war im Neandertal schon richtig und wird es immer sein: Der Starke hilft dem Schwachen. Was jetzt geschieht, kann diesen Grundsatz nicht in Anspruch nehmen.

Das Gegenargument lautet: Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten.

Der Sozialstaat ist auch wirtschaftlich vernünftig. Ich behaupte, erst die Erfindung des Sozialstaats hat Marktwirtschaft überhaupt ermöglicht. Erst nachdem die Risiken wie Unfall, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit aus dem Betrieb externalisiert wurden, war unternehmerische Vernunft möglich.

Sie klingen anders als zu Ihrer Amtszeit. Da haben Sie den Kündigungsschutz gelockert …

Für 300.000 Arbeitsplätze war ich bereit, diese Lockerung mitzumachen.

Wo bleiben die?

Auf die warte ich bis zum heutigen Tage. Aber aus dem Schaden bin ich klüger geworden.

Was sind die Alternativen zu Hartz IV?

Ich glaube, dass der Ansatz, die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zu vereinen, richtig ist. Nur wie das gemacht wird, ist nicht nur Pfusch, sondern das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus.

Was zum Beispiel?

Es werden Löhne von einem Euro zumutbar. Da wird der Drehtüreffekt organisiert: Ich schmeiße einen anständig Bezahlten raus und stelle jemand anderen für einen Hungerlohn ein. Das ist die Organisierung des unlauteren Wettbewerbs. Der Handwerker mit anständigen Löhnen wird zum Dummen. Er wird konkurrenzunfähig.

Welche Reformen sind denn mit dem Sozialstaat vereinbar?

Zum Beispiel, in der Rentenversicherung die demografischen Veränderungen in der Rentenformel einzufangen. In der Krankenversicherung kaprizieren die sich alle auf die Einnahmeseite – wie kommen wir an das Geld der Leute? Ich würde mich um die Ausgabenseite kümmern.

Die CDU macht einen Spagat zwischen „Die Einschnitte reichen noch nicht“ und „Die böse Regierung kürzt zu viel“.

Ich kenne viele Leute, die vor Kraft nicht laufen können, wenn sie ihre Ideen zu Papier bringen. Aber wenn die dann mit der Wirklichkeit konfrontiert werden, sind die alle in den Büschen zu finden.

Können Sie die CDU noch wählen?

Ich bin und bleibe CDU-Mann. Die neoliberale Epidemie ist ja keine Spezialität der CDU, da kann man hingucken, wo man will – sie bricht fast überall aus. Und ich bin nicht in der Gefahr, die PDS zu wählen.

Sie sagen einiges, was Oskar Lafontaine auch so sagen würde …

Wo er Recht hat, hat er Recht.

Würden Sie – wie er – eine Linkspartei unterstützen?

Ich stehe Parteigründungen ablehnend gegenüber, weil da so viel Kraft in die Organisation verwandt wird. Wir müssen die Argumente unter die Leute bringen und den Sozialstaat verteidigen. Ich finde es viel wichtiger in den bestehenden Parteien, den gesunden Menschenverstand zu mobilisieren. Solidarität ist keine Nostalgie.

Oskar Lafontaine möchte am 30. August bei der Montagsdemo in Leipzig sprechen. Würden Sie das auch machen?

Ich habe da keine Berührungsängste, jedoch kann ich verstehen, dass die Montagsdemos sich nicht parteipolitisch vereinnahmen lassen wollen. Aber demonstriert werden muss.

Waren Sie schon auf einer Montagsdemo?

Nein.

Warum nicht?

Meine Demonstration besteht darin, dass ich Interviews gebe und mich an der argumentativen Auseinandersetzung beteilige. Ich habe aber sehr wohl Verständnis für Menschen, die auf die Straße gehen.

Was macht die Regierung falsch?

Ihr fehlt Fingerspitzengefühl und Augenmaß. Hätte ich einen Papagei, dann würde ich ihm drei Worte beibringen: Kostensenkung, Deregulierung, Privatisierung. Damit ist das gesamte Programm der Regierung bezeichnet.

Es ist nicht nur die Regierung. Die Industrie verlangt nun, dass die Unfallversicherung privatisiert wird.

Das erinnert mich an das Märchen vom Fischer und seiner Frau Ilsebill – je mehr se hat, je mehr se will. Bei denen sind offenbar alle Sicherungen durchgebrannt. Die meinen, jetzt wird der Sozialstaat versteigert.

Sie zeichnen ein düsteres Bild. Wie soll es weitergehen?

Das Desaster steht uns noch bevor. Bisher ist das alles noch Trockenschwimmen – wenn Hartz IV ab 1. Januar in Kraft tritt, geht es richtig ins Wasser. Da werden die Leute erst sehen, was los ist. Die Proteste werden sich ausweiten.

Was kommt danach?

Als Optimist sage ich: Das ist ein neoliberaler Rausch, dem bald ein Kater folgen wird. Die Privatisierung des Sozialstaates hat keine Zukunft. Sie ist teuer und ungerecht. INTERVIEW:
SASCHA TEGTMEIER