PETER UNFRIED über CHARTS
: Mama, ich will zurück in die Fruchtblase!

Olympisches Tagebuch: Was bedeutet es, wenn man immer an München 1972 denken muss? Nichts Gutes

Irgendwann kam in diesen Tage so ein total Bekloppter und fragte out of the blue, ob ich eigentlich Klaus Wolfermann kenne. Ich sagte freundlich: Verschwinde, Arschgesicht. Erstens war ich grade mal wieder lustlos mit den Regularien der Disziplin Vielseitigkeitsreiten beschäftigt. Zweitens: kann sich kein normaler Mensch an den Speerwurf-Olympiasieger von 1972 erinnern. Ich leider schon.

Und was viel schlimmer ist: Ich kenne Wolfermanns Siegerweite (90,48 m). Auch die des Zweiten, des Letten Janis Lusis, hat sich in mein Hirn eingebrannt (90,46 m). Ich erinnere mich nicht nur an Heide Rosendahl und wie sie und wir in der Staffel Renate Stecher abgehängt haben (eigentlich ja – gerade auch gesamtdeutsch gesehen – unser größer Sieg, noch vor Bern 1954.) Ich erinnere mich an Rita Wilden (Silber über 400 m), an Konrad Wirnhier (Gold im Schießen), an die Segler Willy Kuhweide und Ulli Libor (beide Bronze). Und das ist erst der Anfang.

Manche sagen, ich sollte den Speicherplatz jetzt langsam mal löschen und was Anständiges dort lagern. Die US-Präsidenten seit Washington? Das Godesberger Programm? Die schlechte Laune der deutschen Linken? Die Frage ist ja immer im Leben: Kommt was Besseres nach? Dabei gehöre ich gar nicht zu den Leute, die immer sagen, seit „Exile on Main Street“ gäbe es ja keine gute Platte mehr. Ich suche Neues. Deshalb schaue ich doch den ganzen Tag Olympia.

Sonntag früh sank ich ins Bett, es hätte ein erfüllter Tag sein müssen, und der Abschied von Haile Gebrselassie war doch richtig berührend. Als ich den Fernseher ausmachte, arbeiteten zwei deutsche Tennisspieler immer noch redlich daran, auch ja kein Gold zu gewinnen. Doch als ich dann die Augen schloss, sah ich wieder nur den Bär von Bellenberg und den Kran von Schifferstadt. Beide von 1972. Okay, sagt einer 1984, sehe ich Michael Groß fliegen, wie sich das gehört. Und selbstverständlich werde ich noch auf dem Totenbett fiebern, bis Dieter Baumann in Barcelona endlich doch noch die Lücke findet. Aber das ist es dann auch. Atlanta? Sydney? Zero.

Nur wenn ich mich richtig toll anstrenge, sehe ich doch etwas von 2004: Christa Haas. Besorgte Freunde fragen: Was siehst du nur in dieser Schwimmsport-Bardame des ZDF? Tja, was? Das Elend unserer Zeit? Sie hatte der Welt einen Entwurf von sich als Köder ausgelegt (gefärbte Blondine mit einem Herzen für Gold). Und wer zugeschnappt hatte, den befeuerte sie eine Woche mit Andeutungen aus ihrem Sexualleben (jedenfalls, wenn man taz, Bild, FR u. v. a. glaubt). Eine nach der anderen stiegen die deutschen Schwimmerinnen aus dem Becken, grade noch respektierte Mitglieder der Gesellschaft. Haas warf sie zurück auf den sozialen Status von Arbeitslosengeld II-Empfängern. Letztlich auch ein Angriff auf uns – die Mittelschicht.

Aggressiv wird beim ZDF um Akzeptanz für die Poschmann-Reform geworben, das ist eine weitere Qualitätsabsenkung, mit der man uns an das Niveau von Sozialhilfe-Fernsehen gewöhnen will. Und wie Steinmeier im Kanzleramt sich nicht vorstellen kann, dass es vernünftige Argumente gegen Hartz IV geben könnte, so kann Steinbrecher im Olympiazentrum sicher nicht verstehen, dass jemand vernünftige Argumente für eine Fernsehsportberichterstattung mit Niveau hat.

Ich will hier aber gar nicht anfangen mit dem Dachterrassen-Journalismus, den verlorenen Utopien, der Dopingscheiße. Nur sagen, dass ich dauernd diese Haas vor mir sehe. Wahrscheinlich liegt es ja an mir. Mein Olympia ist jedenfalls deprimierend. Das ist selbstverständlich nichts im Vergleich zu Hans Faßnacht. War dreifacher Sportler des Jahres. Hatte sich in den USA jahrelang gequält. Aber dann kam Mark Spitz. Armer Hans, ich denke oft an ihn zurück.

1972 war ich acht. Deutschland hatte die besten Fußballer der Welt. Und Willy Brandt. Und Liselott Linsenhoff. Ich erinnere mich an alles. Außer an Fernsehreporter. Und schon gar nicht erinnere ich mich an das Attentat im Olympischen Dorf. Wenn ich mich richtig verstehe, ist das nur konsequent.

Fotohinweis: PETER UNFRIED CHARTS Ansichten zu Christa H.? kolumne@taz.de Morgen: Jenni Zylka PEST & CHOLERA