Seid listig, Soziologen!

Wie man alternative Beschreibungen ins Gespräch einschmuggelt, ohne dass es bemerkt wird: In dem aktuellen Sammelband „Wozu Soziologie“ führt Dirk Baecker vor, wie das Zusammenspiel zwischen Soziologie und Gesellschaft funktionieren kann

VON CARSTEN ZORN

Vor drei Jahren hat der Soziologe Dirk Baecker damit begonnen, regelmäßig eine Auswahl seiner zahlreichen Veröffentlichungen, ergänzt um Originalbeiträge, unter einprägsamen Titeln zu gruppieren. Auf „Wozu Kultur?“ folgte so zunächst, im Jahr 2002, „Wozu Systeme?“. Nun hat Baecker mit „Wozu Soziologie?“ den dritten Band dieser Reihe vorgelegt.

Wie Peter Fuchs in einer Besprechung von „Wozu Systeme?“ erläutert hat, fragte Baecker mit diesem Band nicht etwa nach einem Zweck oder einem Telos von Systemen. Er habe vielmehr darauf aufmerksam machen wollen, dass es sich beim Begriff des Systems um eine Zugabe, ein supplement im Sinne Derridas handelt, das man für die soziologische Beobachtung zugleich braucht und nicht braucht. Es gehe in der Rede von „Systemen“ also um einen zunächst zwar notwendigen Einsatz, den man dann aber bald auch wieder aus dem Spiel nehmen könne – ja sofort wieder nehmen müsse, wenn das Spiel perfekt funktionieren soll. Die nun unter dem Titel „Wozu Soziologie?“ vorgelegte Textzusammenstellung wäre offenbar wieder in diesem Sinne zu lesen.

Das „Spiel“, um das es nun geht, ist die Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft. Für diese, so legt Dirk Baecker im Vorwort nahe, bedarf es zwar der Soziologie. So richtig gut aber funktioniert das Zusammenspiel von Soziologie und Gesellschaft eigentlich erst, wenn Letztere gar nicht mehr so recht bemerkt, dass sie sich in ihrer Selbstbeobachtung soziologischer Mittel bedient. Das Zusammenspiel funktioniert also erst dann, wenn die Soziologie der Gesellschaft Unterscheidungen und Beschreibungsmittel anzubieten versteht, die von Managern, anderen Wissenschaften und Journalisten sogleich und wie selbstverständlich aufgegriffen werden. Und wenn sie alle mit diesen Mitteln zudem so erfolgreich arbeiten können – dass sie der Soziologie im Grunde gar nicht mehr bedürfen; wenigstens ihrer eigenen Wahrnehmung nach nicht. Kurzum: Gute Soziologie ist listig. Sie kritisiert nicht, sie führt vielmehr gleich neue Beobachtungsmöglichkeiten, alternative Vokabulare im Betrieb vor. Sodass man sich „dann auch vorstellen kann, es eventuell anders zu versuchen“ – wie Baecker es, eher kokett als bescheiden, in dem Beitrag des Bandes formuliert, der der Organisationssoziologie Luhmanns gewidmet ist.

An deren Beispiel nämlich wird die systemtheoretische List noch einmal ausführlich erläutert – als eine, die „auf dem Umweg über die Veränderung der Soziologie vor allem auf die Fähigkeit der Gesellschaft zielt, sich selbst anders zu beobachten als bisher gewohnt“. In allen übrigen Beiträgen des Bandes wendet sich Baecker dagegen der „Praxis der Theorie“ zu. Sie alle also führen eine entsprechend veränderte, listige Soziologie in Betrieb vor. Und dies bedeutet nicht zuletzt, dass sie sich alle nicht nur an einen allgemein theoretisch und soziologisch interessierten Leser richten. Sie alle haben aber auch noch zusätzlich jeweils besondere Adressaten: Stadtplaner, Musiker, Ökonomen, Bühnenbildner, Kapitalismuskritiker, Galeristen, Architekten, Kunstsponsoren, Personalentwickler, Medienwissenschaften, Geschlechterforschung.

Es liegt auf der Hand, dass Baecker, soll seine List gelingen, all diesen Adressaten nun nicht nur alternative Beobachtungsmittel anbieten kann. Offensichtlich muss er zusätzlich auch noch Anreize bieten, die die entsprechenden „Zusammenhänge“ dann auch noch zu einer tatsächlichen Übernahme dieser Mittel zu motivieren vermögen. Der Theoretiker muss, neben seiner Theorie, auch noch das historisch vorbildlose Genre eines hoch differenzierten „Theorie-Marketings“ – für zahllose unterschiedliche Zielgruppen – erfinden. Listig geworden, wird Soziologie zu einer ziemlich stressigen Angelegenheit. Und zu einer permanenten Gratwanderung zwischen den eigenen Ansprüchen an die Entwicklung komplexer Theorie und an ihre möglichst attraktive Präsentation.

Man kann nur bewundern, welches Geschick Dirk Baecker in der Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung mittlerweile entwickelt hat. Der theoretisch Interessierte fühlt sich auf 351 Seiten (Literaturhinweise und Index inbegriffen) nur einmal kurzzeitig unterfordert – in einem Beitrag über Kunstsponsoring, der sich doch allzu sehr in die bei seinen Adressaten unterstellte Theorietaubheit einfühlt. Und dennoch gewinnt man die Gewissheit, dass auch die jeweils Angesprochenen hier sicher nirgendwo so schnell aussteigen werden.

In erster Linie hat die Auseinandersetzung mit den Anforderungen seiner „listigen Soziologie“ Dirk Baecker dazu verholfen, über die Jahre die Vorzüge seiner luziden und pointierten Wissenschaftsprosa fortzuentwickeln. Sein vortrefflichstes Marketing-Instrument ist die Produktion von Plausibilität. Am Ende seiner Re-deskription des Projekts „Medientheorie“ etwa scheint keine Idee davon plausibler als die im letzten Satz verdichtete: Medientheorie erweitere jene „Methodenlehre des Geschmacks“, als die Kant die Humanwissenschaften bestimmt hatte, über „Ideologiekritik und Psychoanalyse hinaus um eine weitere Kompetenz der Reflexion der ökologischen Lage des Menschen“.

Gelegentlich allerdings scheint Baecker dann doch zu fürchten, dass solch feine Mittel allein nicht ausreichen könnten – und stellt, statt auf dem Wert seiner listigen Soziologie zu bestehen, plötzlich eine „Naturwissenschaft der Kommunikation“ in Aussicht. Müsste die Aufgabe einer listigen Soziologie, auch und gerade an dieser Stelle, nicht vielmehr darin bestehen, es der Gesellschaft zu ermöglichen, es mal wieder mit anderen Wissenschaftsidealen zu probieren?

Auch dem selbstbewusstesten Supplement scheint es immer wieder mal nach expliziter und allgemeiner Anerkennung zu verlangen. Die Soziologie arbeite heute zwar weitgehend unbemerkt, dies aber müsse den Soziologen nicht weiter betrüben, schließlich wisse er ja, dass seine Disziplin für die Selbstbeobachtung der Gesellschaft längst unverzichtbar geworden sei – schreibt Baecker zunächst gelassen in seinem Vorwort.

Doch diese Gewissheit scheint vor allem den Autor selbst in Wahrheit gar nicht trösten zu können. Und vor allem dass die Soziologie „auf dem Buchmarkt“ den Kulturwissenschaften hat „weichen“ müssen, lässt Baecker offensichtlich gar nicht so kalt, wie es zunächst den Anschein hat. „Wozu Soziologie?“ bietet eine soziologische Leistungsschau mit auffälliger Stoßrichtung: Es geht um Bilder, um Text, um Film, um Computer, um elektronische Musik, um Erinnerung und Gedächtnis, um Medientheorie und um einen Gegenstand der Gender Studies. Es geht offenbar vor allem darum zu zeigen, dass die Soziologie auch auf den angestammten Gebieten der Medien- und Kulturwissenschaften die letztlich plausibleren Alternativbeobachtungen anzubieten hat. Auch wenn diese sich dann oft gar nicht so wesentlich von denen der Kulturwissenschaften unterscheiden. Vor allem aber fragt sich, ob es klug ist, die Soziologie als „naturwissenschaftliches“ Gegenprojekt profilieren zu wollen. Und auch, ob bei einer allzu scharfen Frontstellung die feine Ironie der Systemtheorie nicht erheblichen Schaden nehmen könnte. Dem andächtigen Verharren vieler Kulturwissenschaftler vor „Bildtheorien“ etwa setzt Baecker diese schöne Bemerkung Luhmanns entgegen: „Mit dem Wort ‚Bild‘ bin ich nicht sehr glücklich, aber ich kann es nicht ersetzen.“ Nur klingt das hier auf einmal reichlich verbissen.

Wozu also – diese – Soziologie? Wo Baecker Luhmanns „listige Soziologie“ auf die Kulturwissenschaften loslässt, scheint ihr Potenzial irgendwie verschwendet, schlicht zu verpuffen. Und so ist unter allem, was man in diesem Buch entdecken kann, dies dann sicher das Überraschendste: Das Potenzial systemtheoretischer Soziologie scheint hier eigenartig unterschätzt. Baecker traut ihr, meint man plötzlich zu begreifen, einfach viel zu wenig zu. Jedenfalls sollte man, so zeigt sich, wohl vor allem einer Frage noch einmal etwas mehr Aufmerksamkeit widmen: Wo lohnt sich der Einsatz „listiger Soziologie“ wirklich? Wenn man genauer hinsieht, so kann man an dieser Stelle dann auch den größten Vorzug dieses Buches entdecken: Man stößt immer wieder auch auf Orte, Themen, Gegenstände, die hierfür infrage kommen könnten.

Da zeigt Baecker etwa, dass Luhmanns frühe Arbeiten zur Organisationssoziologie das Vokabular vorwegnahmen, das es möglich gemacht hat, heute vielerorts Netzwerke an die Stelle von Organisationen zu setzen – und auf diese Weise viele von ihrer Abhängigkeit von Vorgesetzten zu befreien. Und sogleich zeichnet sich eine nur logische, quasi ererbte Folgeherausforderung ab. Könnte die wichtigste Herausforderung für einen luhmann-baeckerschen Soziologen heute vielleicht darin bestehen, nun ein Vokabular in die Gesellschaft „hineinzuschmuggeln“, das die Netzwerker von ihrem besonderen Druck, vom neuen Zwang zur Selbstausbeutung befreien würde? Davon hätten sicher auch die „listigen Soziologen“ selber etwas.

Dirk Baecker: „Wozu Soziologie?“. Kadmos Verlag, Berlin 2004, 351 Seiten, 24,50 €