Vorsorge ohne Staat

Seit Jahren weigern sich Regierung und Opposition, eine Vermögensteuer einzuführen. Kapital sei halt ein scheues Reh. Warum sollte das bei den kleinen Leuten anders sein?

Manch hämische Kommentare degradieren die Hartz-Kritiker von politischen Subjekten zu Objekten

Im Leitartikel der FAZ stand vor einigen Tagen ein bemerkenswerter Satz: „Wenn den Hartz-Kritikern die ökonomischen Argumente ausgehen, weichen sie gern in Befindlichkeiten aus.“ Ob der Autor wirklich behaupten wollte, die wirtschaftliche Entwicklung bliebe von psychologischen Faktoren unbeeinflusst? Nein, so hat er das gewiss nicht gemeint. Schließlich gilt es als Binse, dass die Konjunktur lahmt, wenn Unternehmer das Vertrauen in die Zukunft verlieren. Aber der verächtliche Spott bezog sich ja nicht auf die Gemütslage von Industriekapitänen, sondern auf Politiker, die affirmativ die Montagsdemonstrationen analysieren.

Die Botschaft der Zeitung ist somit unmissverständlich: Es ist herzlich egal, was Betroffene von politischen Entscheidungen halten, solange Gefühle wie Wut und Angst ihre einzigen Druckmittel sind und sie nicht darüber hinaus noch über Produktionsmittel verfügen. Eine solche Sichtweise degradiert die Mehrheit der Bevölkerung von politischen Subjekten zu Objekten – und zeugt von historischer Bewusstlosigkeit.

Die Erfahrung lehrt, dass eine Rechnung nicht nur die Wirte, sondern auch die Kellner berücksichtigen muss. Andernfalls geht sie nicht auf, weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht. Vernunft ist in der Politik keine abstrakte, sondern eine sehr konkrete Kategorie. Ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung scheint vergessen zu haben, was Otto von Bismarck, der konservative Erfinder der deutschen Sozialgesetzgebung, noch wusste.

Es ist wahr: Im Widerstand gegen Hartz IV – Franz Müntefering möge den Gebrauch des Begriffs noch einmal verzeihen – steckt viel Demagogie und Populismus. Die meisten der Gerüchte sind falsch, die seit Wochen verbreitet werden. Weder konfisziert der Staat künftig die Sparbücher von Kindern, noch werden treu sorgende Familienväter gezwungen, ihre Lebensversicherungen weit unter Wert zu verscherbeln. Arbeitslose müssen auch nicht überstürzt das geerbte Reihenhaus verkaufen, das die Eltern im Schweiße ihres Angesichts aufgebaut haben.

Im Detail sind alle neuen Regelungen erheblich komplizierter, als griffige Überschriften das vermuten lassen. Unterstellt werden kann, dass viele der Wortführer des Protests das wissen, vor allem in den Reihen der Unionsparteien. Es ist unredlich, wenn ausgerechnet die Befürworter eines noch härteren Sozialabbaus sich zu Anwälten derjenigen aufschwingen, die derzeit Angst vor Verarmung haben. Daraus lässt sich allerdings nicht schließen, dass die Erbitterung der Betroffenen als unbegründet oder als „Besitzstandswahrung“ abqualifiziert werden kann. Die Leute fühlen sich durchaus zu Recht betrogen. Denn die umstrittenen Gesetze bestrafen ausgerechnet diejenigen, die genau das getan haben, was Politiker von ihnen verlangen: sich nämlich nicht allein auf den Staat zu verlassen und die Bereitschaft zur Eigenvorsorge zu zeigen.

Eine 16-Jährige, die das Erbe der Großmutter in Höhe von 10.000 Euro spart, statt es sofort auszugeben, riskiert, dass ihre arbeitslosen Eltern deshalb weniger Sozialhilfe – Verzeihung: Arbeitslosengeld II – bekommen. Das ist gar nicht gut für den Familienfrieden. Wenn eine 55-Jährige vor 25 Jahren eine Kapitallebensversicherung in der Hoffnung abgeschlossen hat, diese würde ihr als 60-Jährige einen soliden Gewinn und somit eine Alterssicherung garantieren, dann erweist sich das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt als Fehlkalkulation, zu dem ihr als Arbeitslose kaum noch Perspektiven bleiben. Ein Ehepaar, das seit Geburt des Kindes monatlich 25 Euro auf ein zinsgünstiges Konto eingezahlt hat, um dem Nachwuchs ein Startkapital geben zu können, muss sich als Vermögen anrechnen lassen, was niemals für die Befriedigung eigener Bedürfnisse gedacht war.

Spitzfindige Hinweise wie die, Konten für Kinder hätten eben unter deren Namen angelegt werden müssen, sind lebensfremd. Niemand weiß, ob das süße Baby nicht zum drogenabhängigen Teenager heranwächst. Es gibt für Eltern gute Gründe, sich die Entscheidung darüber vorzubehalten, ob sie 18-Jährigen eine große Summe in die Hand drücken wollen. Wer vor zehn Jahren begonnen hat, für ein Kind zu sparen, konnte Hartz IV – Entschuldigung, Herr Müntefering – nicht vorhersehen. Bestraft wird also nicht nur Eigenvorsorge, sondern auch noch etwas anderes, was ein stabiles Gemeinwesen braucht: Vertrauen in die Politik. Das wird sich rächen.

Alle genannten Beispiele betreffen Angehörige der Mittelschicht, nicht die Unterprivilegierten? Ja doch. Aber dazu gehörte eben in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft tatsächlich die ganz große Mehrheit, das ehemalige Proletariat eingeschlossen. Vermögensbildung wurde auch der Facharbeiterin ermöglicht. In Ostdeutschland hat diese Vermögensbildung breiter Schichten nicht stattgefunden, deshalb ist die Angst vor Armut dort unmittelbarer. Aber vermutlich nicht folgenreicher für die politische Gesamtentwicklung.

Die Tatsache, dass die westdeutsche Mittelschicht nicht auf die Straße geht, bedeutet nämlich nicht, dass sie sich existenzbedrohende Maßnahmen widerstandslos gefallen lässt. Es entspricht lediglich ihrer Tradition, eher nach individuellen als nach kollektiven Lösungen zu suchen. Also beispielsweise Geld auf dem Konto der beamteten Schwägerin zu bunkern, die keine Arbeitslosigkeit zu fürchten braucht. Es ist schon lustig: Seit Jahren werden Forderungen nach Anhebung der Erbschaftsteuer oder Einführung der Vermögensteuer regelmäßig mit dem Argument gekontert, Kapital sei ein scheues Reh, das daran gehindert werden müsse, ins Ausland zu entfleuchen. Warten wir mal ab, wie viele Konten demnächst von Deutschen in Luxemburg eröffnet werden, die daran bislang nicht einmal im Traum gedacht hätten.

Bestraft wird nicht nur Eigenvorsorge, sondern Vertrauen in die Politik. Das wird sich rächen

Wenn Steuerbetrug salonfähig wird, dann hat das Auswirkungen auf die Akzeptanz des gesamten Rechtssystems. Wer das für ein kalkulierbares Risiko hält, ist nicht mutig, sondern leichtsinnig. Und wer den Spitzensteuersatz ausgerechnet zu einem Zeitpunkt senkt, an dem die öffentliche Hand den Offenbarungseid leistet, braucht sich über den Verlust seiner Glaubwürdigkeit nicht zu wundern. Es gibt politische Entscheidungen, die nicht allein ökonomisch begründet werden dürfen. Das Gerechtigkeitsempfinden großer Teile der Bevölkerung lässt sich nicht straflos verletzen.

Hätte es Alternativen gegeben? Bestimmt. Es gibt immer Alternativen. Was spräche beispielsweise dagegen, Sozialhilfe auf Wunsch als Darlehen zu vergeben, das bei Fälligkeit bestimmter Kapitalanlagen zurückgezahlt werden kann? Oder Eltern die Verfügungsgewalt über die Konten ihrer minderjährigen Kinder zu entziehen, solange sie staatliche Gelder beziehen? Vielleicht sind diese Vorschläge nicht praktikabel. Aber es scheint so zu sein, als ob die Regierung über weniger kreative Köpfe verfügt als viele Stammtische. Das ist bedrückend.

BETTINA GAUS