Der Schweigsame

Gefühle körperlich ausdrücken, ohne sie plakativ zu machen – darum geht es dem Schauspieler Richy Müller. Und weil der Körper am deutlichsten spricht, wenn die Stimme stumm bleibt, ist sein Schweigen beredt und vielgestaltig. In Michael Kliers neuem Film „Farland“ gibt er einen Mann, der implodiert

VON ANKE LEWEKE

Wortlos betritt er das Krankenzimmer, verzieht keine Miene. Minutenlang steht er regungslos am Bett des schwer verletzten Sohnes und starrt ins Leere. In „Farland“, Michael Kliers neuem Film, steht Richy Müllers Schweigen wie ein Fels im Raum. Man spürt, dass seiner Figur schon längst die Worte ausgegangen sind, dass sich hier einer in sich selbst vergraben hat. Etwas zutiefst Trauriges und Hilfloses geht von dem verhärmten Häuflein Mensch in der blauen Jacke aus. Nur er selbst scheint das nicht zu wissen.

„Schauspielerei ist erst einmal Körperlichkeit“, sagt Richy Müller. „Mein Anliegen ist es, Gefühle körperlich auszudrücken, ohne sie plakativ zu machen.“ Tatsächlich bringt er seinen Körper immer wieder auf seltsam beiläufige Weise zum Sprechen. Jenseits von ausufernden Gesten und aufgesetzter Mimik spielt er mit den verschiedenen Formen der Zurückgenommenheit: Richy Müller oder die Phänomenologie des Schweigens.

In Christian Petzolds Film „Die innere Sicherheit“ ist es ein eher intellektuelles Schweigen. Eines, das auf Handlungssicherheit basiert. Seit Jahren lebt der ehemalige Terrorist Hans mit Frau und Tochter im Untergrund. Ein paar Handbewegungen genügen Müller, um die Welt eines Mannes zu etablieren, der es gewöhnt ist, ständig auf der Flucht zu sein. Routiniert versteckt er Ersatzpässe in Bahnhofsschließfächern, wechselt Nummernschilder oder scannt aufmerksam im Rückspiegel, ob er verfolgt wird: Schweigen oder die zur Routine gewordene Paranoia.

Auch in Nicolai Rohdes Spielfilmdebüt „Zwischen Tag und Nacht“ sind es die alltäglichen Gesten, mit denen der Schauspieler die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich zieht. Müller spielt einen Essener U-Bahnfahrer, der versucht, das Trauma eines Selbstmörderunfalls zu überwinden. „Für diese Rolle habe ich tatsächlich das U-Bahn-Fahren gelernt, das hat mir richtig Spaß gemacht“, sagt Müller. „Aber dann habe ich mich gefragt, wie es wohl ist, wenn man das jeden Tag machen muss. Du bist ja fast immer untertage, du siehst ja kaum Licht. Wenn du Pech hast, fährst du tagsüber, und dann ist abends wieder dunkel. Für so einen Job muss man sich immer neu motivieren, die Fahrer müssen etwas Attraktives daran finden. All das ist schon in der ersten Szene drin. Da spürt man einfach, dass es sein Ding ist, wie er da die U-Bahn nach Dienstschluss abgeht.“ Erstaunlich, welche Würde Richy Müller dem U-Bahn-Fahrer verleiht – wenn er nach dem Dienst prüfend die einzelnen Wagen abschreitet und schaut, ob alles in Ordnung ist, legt sich ein anrührender Ernst über sein Gesicht. Müller füllt die Uniform des U-Bahn-Fahrers aus. Mit dem Stolz eines Menschen, der von seinem Tun überzeugt ist: Schweigen oder die Einheit mit der Arbeitswelt.

Durch Reduktion zum Kern einer Figur vordringen, das Konzentrat einer Gefühlswelt herausarbeiten – Richy Müller selbst umschreibt den Prozess als eher instinktive Annäherung an seine Rollen. „Da ich nicht nach einer bestimmten Technik oder Methode arbeite, kann ich meine Art zu spielen nur schwer erklären. Ich fühle mich eher als Ausführungsorgan. Deshalb lasse ich mich stimulieren, meistens vom Drehbuch. Ich versuche bei der Arbeit die Stimmung aufrechtzuerhalten, die ich beim Drehbuchlesen gewonnen habe. Die mich überhaupt dazu gebracht, die Rolle anzunehmen.“

Welche Stimmung hat er beim Lesen von Michael Kliers „Farland“ vorgefunden? „Es war eine ungeheure Sprachlosigkeit, die mir entgegenschlug, die einem die Kehle zuschnürt,“ sagt Müller. „Man steht am Bett eines Menschen, den man sieben Jahre lang nicht gesehen hat. Und es tut sich nichts. Wenn man dem anderen gegenüber nichts empfindet, dann heißt das, dass man sich auch selbst nicht spürt. Dass man sich versteckt in einem Winkel des eigenen Körpers.“

In „Farland“ kann man zu sehen, wie ein Mann wieder zu sich kommt, eine Erstarrung langsam aufbricht. In der wohl beklemmendsten Szene spürt man regelrecht, wie Richy Müller innerlich Amok läuft, weil er nicht weiß, wie er seine jahrelang unterdrückte Wut und Frustration äußern soll. Ein Mann implodiert. Verzweifelt reibt er seinen Körper an den von Laura Tonke, und doch scheint sich nichts zu regen. Es ist eine gespenstische Einstellung. Gleichzeitig entwickelt Müllers Filmfigur hier endlich wieder ein Gespür für sich selbst – „Farland“ oder das Ende des Schweigens.

Während unseres Gesprächs versucht Richy Müller, mit immer neuen Worten seinen Schauspielansatz zu umschreiben. „Ich bin das Sprachrohr des Machers. Meine eigene Meinung und mich selbst schraube ich dabei weitgehend zurück.“ Auch beim Interview nimmt sich Müller zurück und lässt dem Schauspieler den Vortritt. Fast wie ein braver Schüler trottet er in Jeansbermudas und Turnschuhen der Pressebetreuerin hinterher, stellt sich höflich vor und antwortet ausführlich auf jede Frage. Dabei versteckt er sich nicht hinter affektiertem Gehabe und Anekdoten, sondern versucht konzentriert, den Kern seiner Berufsauffassung zu umschreiben. „Mein wichtigstes Ding ist, den anderen in die Augen zu blicken. Privat wie in der Arbeit, daraus ergeben sich dann Momente, die unangenehm sein können. Dann guckt man vielleicht weg, aber es kann auch etwas entstehen, wenn jemand den Blick erwidert.“

Vielleicht ist es tatsächlich dieser Blick, der seine Figuren so verbindlich werden lässt. Ein Blick, der dem Betrachter noch lange nachgeht. Schon in der ersten Rolle als Halbstarker Richy in „Die große Flatter“ lässt er Wut und Hass eines Zukurzgekommenen in seinen Augen aufblitzen. Mit diesem rebellischen Blick hat er vor fast 25 Jahren das deutsche Fernsehpublikum bis ins Mark getroffen. Und zwar so nachhaltig, dass aus Hans-Jürgen Müller plötzlich Richy Müller wurde. Auch wenn er nach dem großen Erfolg von Marianne Lüdckes Sozialdrama gegen das ewige Rebellenimage kämpfen musste, hat Müller diesen Namen beibehalten. „Den hat man mir ja angetragen. Alle nannten mich auf einmal so. Die Leute auf der Straße, in den Kneipen. Alle meinten, mich aufgrund der Rolle zu kennen. Der Name Richy ist aber bis heute eher ein Schutzmantel, im Innern bin ich immer noch Hans-Jürgen.“

„Farland“. Regie: Michael Klier. Mit Richy Müller, Laura Tonke u. a. Deutschland 2004, 90 Minuten