Der kaukasische Teufelskreis

Moskau lässt in Tschetschenien wieder einmal wählen. Doch Frieden wäre nur zu erreichen, wenn der Kreml das Scheitern seiner Politik eingesteht

AUS MOSKAU KLAUS HELGE DONATH

Die Rotorblätter seines Hubschraubers drehten sich noch, als Wladimir Putin in aller Frühe mit roten Nelken zum Grab Achmat Kadyrows in Zentoroi eilte. Vergangenen Sonntag wäre der im Mai ermordete moskautreue Präsident 53 Jahre alt geworden. Links neben dem russischen Präsidenten Putin stand der neue, designierte Statthalter des Kreml, Alu Alchanow, rechts der Sohn des Ermordeten, Ramsan Kadyrow. Die demonstrative Gedenkveranstaltung war auch als Wahlkampfhilfe gedacht. Der trauernden Troika misslang dies aber. Sie bot ein Bild kollektiver Verstörung, jeder schien sich die gleiche Frage zu stellen: Wer wird der Nächste sein?

Das offensive Gedenken an Achmat Kadyrow ist ein zentrales Moment der Kreml-Strategie, trotz aller Rückschläge den eingeschlagenen Kurs der Normalisierung fortzuschreiben. Die Bemühungen wirken hilflos. Die Botschaft, seit dem forcierten Referendum im März letzten Jahres, das über den Verbleib der Republik im russischen Staatsverband entschied, stabilisieren sich die Lebensverhältnisse und Normalität ziehe ein, wird weder im Kaukasus noch von der russischen Öffentlichkeit geglaubt.

Im zweiten Jahr der „Normalisierung“ sind immer noch 76 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Die Jugend sitzt auf der Straße und hat nur ein Handwerk erlernt – das der Gewalt. Von den Entschädigungszahlungen, die Moskau seit 2001 geleistet hat, 2 Milliarden Euro insgesamt, sind „drei Viertel im Nirgendwo verschwunden“, stellte der russische Rechnungshof fest. Von den 88.000 Familien, deren Häuser zerstört wurden und die Anträge auf Entschädigung stellten, haben bislang nur 8.000 Geld erhalten. Und dies auch nur, wenn sie bereit waren, einen Teil der Wiedergutmachung der korrupten Bürokratie zu überlassen. Im Juli versprach Anatoli Tschubais, der Herr über die russischen Stromwerke, bald werde die Republik wieder „Licht, Wärme und normale Lebensbedingungen“ haben. Das gleiche Versprechen hatte Tschubais schon einmal gegeben, kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen vor nunmehr fast fünf Jahren.

Die Wirklichkeit sieht anders aus: Der Anschlag auf Achmat Kadyrow am 9. Mai führte dies dem Kreml schmerzhaft vor Augen. Solange sich Moskau nur auf den Vertreter eines Clans stützt, der wegen seiner kriminellen Vergangenheit in der Bevölkerung keinen Rückhalt genießt, zieht in Tschetschenien kein Frieden ein. Wie machtlos die Sicherheitsorgane sind, zeigte sich im Juni, als zweihundert Rebellen in der Nachbarrepublik Inguschetien an verschiedenen Orten gleichzeitig Regierungseinrichtungen überfielen. Nach offiziellen Angaben starben dabei allein 47 Militärangehörige und zahlreiche Zivilpersonen. Die Eindringlinge entkamen, offenbar ohne Verluste. Um die Scharte auszuwetzen, setzt in solchen Fällen danach eine wahllose Hatz der Sicherheitsorgane auf vermeintliche Täter in der Zivilbevölkerung ein. Das treibt den Rebellen neue Kämpfer zu. Ein Teufelskreis, den die Verantwortlichen in Moskau seit fünf Jahren nicht zur Kenntnis nehmen.

Die explosive Lage im Kaukasus beeinflusst das Sicherheitsgefühl in ganz Russland. Nirgends glauben sich die Bürger mehr sicher vor terroristischen Anschlägen. Hinter den fast zeitgleichen Abstürzen zweier Inlandspassagiermaschinen vorgestern vermuteten die russischen Behörden zunächst auch Terroristen.

Von Normalität kann mithin keine Rede sein und auch nicht von gesicherten Machtstrukturen der moskautreuen Regierung. Aslan Maschadow, der vertriebene legitime Präsident, kann sich nur noch auf wenige Gefolgsleute verlassen. Dem Verlust seines Einflusses steht eine Radikalisierung der politischen Haltung gegenüber, die auch Kooperation mit islamistischen Fundamentalisten nicht mehr ausschließt. Die ehemaligen Feldkommandeure arbeiten inzwischen auf eigene Rechnung und verfolgen private wirtschaftliche Interessen. Der Krieg hat das Leben kriminalisiert und jeden zum potenziellen Feind werden lassen.

Frieden wäre nur zu erreichen, wenn sich der Kreml durchringt, das Fehlschlagen der Kaukasuspolitik einzugestehen. Ein erster Schritt könnte die Verhängung des Ausnahmezustands sein, in dessen Verlauf Wahlen vorbereitet werden, die diesen Namen auch verdienen. Darüber hinaus sollte sich eine breit angelegte Amnestie auf alle Mitglieder der bewaffneten antirussischen Einheiten erstrecken, die keine schweren Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen haben. Erst das würde das Misstrauen abbauen, meinen Vertreter von russischen Menschenrechtsgruppen, die im Juni einen 16-Punkte-Plan zur Befriedung Tschetscheniens entwickelt haben. Das Konzept sieht vor, dass an den Wahlen alle politischen Kräfte einschließlich der Separatisten teilnehmen können. Um Neutralität zu garantieren, schlagen sie vor, internationale Organisationen an dem langwierigen Friedensprozess zu beteiligen. Das setzt aufseiten Moskaus nicht nur Einsicht voraus, sondern klare Machtverhältnisse, die es Wladimir Putin gestatten, das Image des Bezwingers gegen das eines Friedenspräsidenten im Kaukasus einzutauschen.