Wir leben alle längst in Lagern

Der Ausnahmezustand sei keine Ausnahme mehr, sondern das herrschende Paradigma des Regierens, glaubt Giorgio Agamben. Darauf muss man erst mal kommen

VON ULRIKE HERRMANN

Keine Frage, die Zustände in Guantánamo sind empörend. Die Häftlinge gelten nicht als Kriegsgefangene, werden nicht angeklagt, ja sie unterliegen der kompletten Willkür. Aber was bedeutet das? Die meisten sind geneigt, Guantánamo als einen Skandal zu sehen, der nur zeigt, wie unsäglich US-Präsident George W. Bush agiert. Dieser Unfug würde enden, so die Hoffnung, wenn der demokratische Kandidat John Kerry die Wahlen im November gewinnt. Und überhaupt: Sind nicht bereits jetzt kleine Korrekturen zu erkennen? Immerhin hat der Supreme Court in Washington gestattet, dass die Lagerinsassen gegen ihre Haft klagen.

Für solch vorsichtigen Optimismus hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben keinerlei Verständnis. Für ihn ist Guantánamo nur eine weitere Chiffre, die die wahren Machtstrukturen enthüllt: Wir alle leben längst in Lagern, Demokratie und Diktatur sind ununterscheidbar. Eigentlich geht es inzwischen sogar schlimmer zu als im Dritten Reich. Das wird zunächst am Beispiel Guantánamo behauptet, das „allenfalls mit dem rechtlichen Status der Juden in Nazi-Lagern“ vergleichbar sei. Aber immerhin, so der Nachsatz, hätten die Juden „wenigstens“ ihre jüdische Identität behalten. Die Häftlinge in Guantánamo hingegen sind reduziert auf ihr „nacktes Leben“.

Damit will Agamben jedoch nicht den Nationalsozialismus relativieren, das wäre ein Missverständnis – sondern die Demokratie. Für ihn verdeutlicht Guantánamo nur einen allumfassenden Prozess: Der Ausnahmezustand ist keine Ausnahme mehr, sondern „erweist sich in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens“.

Darauf muss man erst mal kommen. Auch Agamben scheint durchaus klar zu sein, dass sich sein Fatalismus nicht von selbst versteht. Denn er versucht, seine radikalen Thesen gleich doppelt abzusichern – durch philosophische und durch rechtshistorische Argumente.

Philosophisch kreist Agamben um jenes Paradox, das sich im Ausnahmezustand offenbart: Die Rechtsordnung wird in politischen Krisen suspendiert, damit sie gerettet werden kann. Mit dieser Aporie begründete auch Bush seine „military order“, die schließlich Guantánamo ermöglicht hat: Die demokratischen Rechte wurden eingeschränkt, um die Demokratie USA zu verteidigen. Doch ist diese Demokratie dann leider nicht mehr klar von einer Diktatur zu unterscheiden. Das ist für Agamben kein bedauerlicher Zufall, sondern systemlogisch. Der Ausnahmezustand sei prinzipiell „ein rechtsfreier Raum“, eine „Zone der Anomie“ und dafür gibt es nur noch ein Sinnbild – eben das Lager. Wer dort völlig entrechtet einsitzt, dem kann es egal sein, wie sich die Staatsform offiziell nennt, die es errichtet hat.

Nun würde niemand bestreiten, dass Demokratien zu Diktaturen werden können, wenn sie sich im Ausnahmezustand befinden. Das gehört spätestens seit Adolf Hitler zum historischen Wissen, denn er kam fast völlig legal an die Macht. Dafür muss man keinen philosophischen Aufwand treiben. Aber Agambens These ist ja auch viel radikaler: Eigentlich will er zeigen, dass der Ausnahmezustand seit dem Ersten Weltkrieg zur Regel geworden ist. Agamben unterstellt einen Prozess – aber er verfügt über keinerlei Theorie, die diesen Wandel beschreiben könnte. Seine begriffsanalytischen Studien zum Ausnahmezustand geben dazu nichts her.

Das scheint auch Agamben zu ahnen, der parallel zu den philosophischen Reflexionen immer auch rechtshistorisch argumentiert. Wie schon in seinem ersten Werk, „Homo sacer“, beginnt er im archaischen Rom. Diesmal gräbt er das Rechtsinstitut „iustitium“ aus, das erneut eine „Schwelle der Ununterscheidbarkeit“ beschreibt. Beim Homo sacer handelte es sich um einen Menschen, den man ungestraft töten konnte, der aber juristisch nicht verfolgt und bei religiösen Riten nicht geopfert werden durfte. Er stand jenseits vom menschlichen und vom göttlichen Recht, war im politischen Sinn weder tot noch lebendig. Er war nur „nacktes Leben“, wie die Insassen von Guantánamo oder von Auschwitz. Das „iustitium“ wiederum ist für Agamben „Archetyp des modernen Ausnahmezustands“. Wenn die Republik in Gefahr war, konnte jeder Bürger tun, was ihm richtig erschien, um Rom zu retten. Regenten und Volk waren plötzlich ununterscheidbar, genauso wie privat und öffentlich.

Allerdings verloren beide Begriffe – „Homo sacer“ und „Iustitium“ – schon in der Antike so schnell an Bedeutung, dass selbst die Römer sie wenig später nicht mehr zu deuten wussten. Daraus könnte man schließen, dass diese Rechtsinstitute wohl nicht so bedeutsam waren. Nicht so Agamben, der das „Arcanum“, das Geheimnis des Politischen, entziffern will. Der mythische Ursprung der Begriffe verkehrt sich bei ihm zum Ursprungsmythos.

Einmal beim Iustitium gestartet, geht Agamben dann eklektizistisch vor; verwandte Strukturen erkennt er bei Augustus, im mittelalterlichen Karneval, bei Napoleon, beim Führer und beim Duce. Im Finale steigert er sich zu der Behauptung: „Der Ausnahmezustand hat heute erst seine weltweit größte Ausbreitung erreicht.“ Denn schließlich, so erkennt Agamben, würden die Parlamente immer mehr entmachtet, würden die Regierungen stets stärker durch Erlasse prägen. Das klingt dramatisch, wäre aber für die Bundesrepublik strukturell wirklich nichts Neues: Hier segnet der Bundestag sowieso fast immer die Gesetzesvorlagen der Kabinette ab, die Regierungsfraktionen sind nur Mehrheitsbeschaffer. Das Parlament hat in Deutschland keine autonome Funktion. Agamben überschätzt die Legislative, weil er sie mit der Opposition verwechselt.

Andererseits kommen Wahlen, konkurrierende Parteien und Protest bei ihm nicht vor, sie sind in seiner Machttheorie nicht zu fassen. Agamben beschreibt zwar Guantánamo – aber die weltweite Empörung wird ignoriert. Die Folterungen in Abu Ghraib passen zwar bestens in sein Bild, aber er könnte nicht erklären, warum nun zumindest die unteren Chargen der Verantwortlichen selbst im Gefängnis sitzen.

Giorgio Agamben lässt sich in seinem Fatalismus nicht stören. Genau das erklärt seinen Erfolg. Angst kann eben lustvoll sein. Selbst ein so diffiziles Thema wie die Rente gewinnt sofort an Pep, wenn es zur auswegslosen „demografischen Katastrophe“ übersteigert wird. Gepflegtes Schaudern ist immer schön – und mit Agamben wird es noch schöner.

Giorgio Agamben: „Ausnahmezustand“. edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 120 Seiten, 9 Euro