Whisky und Nasenspray

Poetische Theorien und andere Donquichotterien: Junge Performancekünstler und Theatermacher tankten bei der 5. Internationalen Sommerakademie am Frankfurter Mousonturm Material für die nächste Saison. Dieses ist oft eher abstrakter Natur. Da heißt es, unterhaltende Übersetzungsarbeit leisten

VON EVA BEHRENDT

Manchmal ist alles ganz einfach. Zwei Leute machen ein Konzept, und es klingt fast zu simpel, um funktionieren zu können. 30 Frankfurter Bürger dürfen bei Steffi Lorey und Björn Auftrag für je eine Minute auf der Studiobühne des Künstlerhauses Mousonturm stehen und sagen, was sie immer schon loswerden wollten. Dafür müssen sie sich bloß ziemlich kurz fassen und eine Lampe mitbringen. Die meisten entschuldigen sich erst mal. Einer macht seiner Frau zur Silberhochzeit eines Liebeserklärung, ein anderer wirbt souverän für Gott, eine Arbeitslose Anfang 50 ist verbittert, und aus einer jungen Frau bricht es glucksend heraus: „Ich muss einfach mal sagen, wie glücklich ich zurzeit bin!“ Dazu tickt ganz sachlich die Uhr. Und weil jeder nach seiner Minute auf der Bühne bleibt, entsteht dort Mensch für Mensch eine immer heller erleuchtete Kulisse, ein statistischer Querschnitt und ein immer anrührenderes Kaleidoskop von Individuen und Gefühlen.

Doch bevor alles ganz einfach aussieht, geht es oft ziemlich wirr, abstrakt und kompliziert zu. Die 5. Internationale Sommerakademie am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm, auf der Lorey und Auftrag ihr „Standbild mit Randexistenzen“ zeigten, versuchte mit wissenschaftlichen Vorträgen, internationalen Referenten, politischen Aktivisten und einem umfangreichen Performanceprogramm (kuratiert von Florian Malzacher, Thomas Frank und Marten Spangberg) ein solcherart produktiv werdendes Durcheinander zu bieten und zugleich zum Publikum hin zu öffnen. Wie Lorey und Auftrag, die beide aus der Gießener Angewandten Theaterwissenschaft kommen, gehörten dabei die meisten Teilnehmer zu einer jungen Generation von freien Tanz- und Theatermachern, für die sich neuerdings auch das Stadttheater interessiert – obwohl sie lieber mit Laien arbeitet als mit professionellen Schauspielern, obwohl sie es vorzieht, Konzepte zu erstellen, statt Geschichten zu erzählen, obwohl sie aufs Regietheater pfeift und sich lieber an philosophischen oder soziologischen Theorien festbeißt, als den dramatischen Kanon zum x-ten Mal neu zu interpretieren. Damit sind sie die jüngsten Vertreter einer international vernetzten Szene, deren Kunst seit den 60er-Jahren auf der Rezeption emanzipatorischer Theorien gründet und die es gleichwohl selten über den Nischenstatus hinaus geschafft hat.

In diesem Milieu, das sich selbst als Avantgarde labelt, hat sich die Frankfurter Akademie zum wichtigen Trainingscamp und Kommunikationspool entwickelt. Während die jungen Tänzer und Performer aus aller Welt neun Tage lang etwa unter der Ägide der britischen Altmeister von Forced Entertainment die Rolle des Publikums erforschten, mit dem Performance-Duo Jan Ritsema und Bojana Cvejic von der belgischen Tanz-Theorie-Schmiede P.A.R.T.S. kapitalismuskritische Texte von Deleuze/Guattari bis Negri/Hardt diskutierten oder gemeinsam mit den Kuratoren Marius Babias und Florian Waldvogel der Frage nachgingen, ob und wie durch Kunst politisches Wissen vermittelt werden kann, ging es unterschwellig immer auch um die Frage nach der Funktion von Theorie im Theater. Denn nicht immer ist die Performancekunst so transparent wie bei Lorey und Auftrag, Forced Entertainment oder Jérôme Bel. Bei zu viel verzweifelt angewandtem (und überdies nicht mehr ganz frischem) Deleuze, Bataille und Foucault, beim Versuch, Ideen auf die Bühne zu stellen, statt sie dort zu entwickeln, können Tanz und Theater auch penetrant hermetisch oder platt und dröge werden. Nicht zuletzt, da sich auch an der Performancefront eingefleischte Kulturkämpfer tummeln, die jeden Anflug von Entertainment als Einknicken vor dem Kapitalismus brandmarken, oder hartgesottene Esoteriker, die sich im Grunde nicht sonderlich für die Wirklichkeit interessieren. Jan Ritsema formulierte es so: „Die Herausforderung besteht im Theater darin, die Lücke zwischen zu viel und zu wenig Information zu treffen.“

Diese Lücke trafen zum Beispiel die liebenswürdigen Hippies Gary Winters und Gregg Whelan, die sich zusammen Lone Twin nennen, mit „The Days Of The Sledge Hammer Have Gone“. Lone Twin verbinden nicht nur knallharte Walking Performances mit durchaus entertainendem Straßentheater, sondern auch die Ausrüstung eines Reinhold Messner mit der Gesinnung von Don Quichotte: Nachdem sie auf ihrer achtstündigen Wanderung durch die Bankenmetropole eine eigentlich banale Handlung (Laufen) durch Neudefinition des Rahmens (Kunst) entprofanisiert hatten, befreiten anschließend Mitbringsel wie Anekdoten, Mainwasser, Äppelwoigläser und britischer Humor das ernste Kunstritual wieder von Sinn und Bedeutung.

Überhaupt schien es allen zu helfen, die Sache mit der Theorie nicht allzu ernst, sondern möglichst entspannt und selbstironisch zu nehmen: „Theorien können so poetisch sein“, schwärmte Terry O’Connor von Forced Entertainment versonnen, während der französische Philosoph Eric Alliez seinen Vortrag über die ungebrochene Aktualität des Deleuze/Guattarischen „Anti-Ödipus“ demonstrativ mit kräftigen Dosen codeinhaltigen Nasensprays und großen Schlucken Whisky unterstützte. Und hinter dem letzten Programmpunkt des Tages, der „Late Night Academy“, verbarg sich glücklicherweise nichts Geringeres als umfassendes kollektives Biertrinken. Hier sah dann alles wieder ganz einfach aus.