strafplanet erde: mehrere mundvoll heiße luft von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Unverwandt auf die Spitze einer Stecknadel starrend, fing ich an zu zählen: Wie viele Rechtschreibreformer, Rechtschreibreformgegner und Rechtschreibreformkompromisssucher sich darauf tummeln. Hei, ist das eine Balgerei! Zur Sekunde diskutierten sie, wie die Lache, die eine Pfütze ist, orthografisch zu differenzieren wäre von der Lache eines Witzboldes. Danach stand „modern“ auf der Tagesordnung. Wäre ein Akzent auf der ersten Silbe hilfreich, um das Verfaulen zu markieren? Und einer auf der zweiten Silbe für das andere? Müsste man das nicht endlich in Stein meißeln?

Mit einem zufrieden stellenden (oder zufriedenstellenden?) Ergebnis ist nicht zu rechnen. Zumal im Schnürboden oberhalb der grell erleuchteten Kasperletheater-Bühne diverse Auguren längst das Ende des Alphabetismus ausrufen. An die Stelle der Schrift, der alphabetischen Welt-Raum-Ordnung, dem 3.000 Jahre alten Orientierungssystem, trete der digitale Code, ein Denken in Bildern und Formeln (u.a. Flusser 1987, Theweleit 2004).

Der sich mephistophelisch ins Fäustchen lachende Dritte ist der Chinese. Während er unaufhaltsam zum Giganten der Weltökonomie wächst, muss er sich um das Verschwinden eines Alphabets keine Sorgen machen. Seine Schrift ist aus Bildern abgeleitet, habe ich mir sagen lassen, ein Wort erkennt er an seiner Gestalt, es ist nicht aus Zeichen für Klänge zusammengesetzt.

Zehn Jahre dürfte es her sein, dass mir ein Kleinverleger gut gelaunt prophezeite, so oder so habe die Rechtschreibreform ihr Gutes: „Das ganze Gelände wird bis auf Weiteres zum herrschaftsfreien Raum.“ Das leuchtete mir sofort ein. Ein begrüßenswerter Zustand, sieht man von den sprudelnden Gefahrenquellen bei Schuldiktaten ab. Weil aber die Vorstellung von einem herrschaftsfreien Raum für viele Menschen beängstigend ist, wäre zu überlegen, ob die ohnehin unvermeidliche erneute Teilung Deutschlands unter diesem Aspekt vollzogen werden sollte: In der einen Hälfte sammeln sich die Reformer, ihre Gegner siedeln nebenan. Ein drittes, kleineres Gebiet bliebe nach dem Muster West-Berlins den Kompromisslern vorbehalten.

Herauszuarbeiten, wo der Platz der buchstäblich Indifferenten wäre – auf dem Todesstreifen? auf der Mauer? –, war zu anstrengend. Um trotzdem Ausdauer und Gewissenhaftigkeit vorzutäuschen, nahm ich Anthony Burgess’ Buch „A Mouthful of Air“ zur Hand, in dem er sich mit Sprache und Sprachen befasst. Der Autor von „Uhrwerk Orange“ arbeitete viele Jahre als Englischlehrer in Asien. Uns alle verwirre das gedruckte Wort, schreibt er, weil wir ihm eine Autorität einräumen, die es in Wahrheit nicht besitze: „I make no apology for insisting that language is a mouthful, or several mouthfuls, of air.“ Doch natürlich gebe es sprachliche Aspekte, die am besten mit dem Auge aufgenommen würden, schließt er an: „Language is eye and ear.“

Typical me kam ich übers Vorwort nicht hinaus, sondern rief – vergeblich – nach der Muse Homers, der bekanntermaßen als Kind im Diktat nur Sechsen hatte. Er wollte singen. Gut, dass jemand seine Verse damals als MP3-Datei gespeichert hat, damit wir auch noch was davon haben, damit wir uns daran auch noch erfreuen können.