Die Deutschen sterben aus – und verblöden

Die neuen Bundesländer sind zwar ein Paradebeispiel, aber nicht nur der Osten steht bildungspolitisch auf der Kippe. Zwei renommierte Berufsforscher fällen ein pessimistisches Urteil über die gesamtdeutsche Bildungspolitik. Sie produziert viel zu wenig gut Gebildete, und sie ist sozial völlig ungerecht

Die Bildungsexpansion ist seit über einer Dekade beendetFinnlands Kinder sind doch nicht klüger, sie haben einfach andere Strukturen

aus LIST/SYLTCHRISTIAN FÜLLER

Nein, der Ort weckt keinen Pessimismus. Sylt stärkt die Menschen mit seinem Wasser, der Sonne und der wunderbaren Landschaft. Und die beiden Vortragenden in der Akademie am Meer, Jutta Allmendinger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sowie Andrä Wolter vom Hochschul-Informationssystem HIS, sind alles andere als Miesepeter.

Dennoch fährt eine Brise von Untergang, von Skeptizismus und unfroher Zukunft in die Sommerschule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, als die beiden renommierten Berufsforscher sprechen. Ihre Botschaft lautet: Die Deutschen werden immer weniger, immer blöder – und immer ungerechter.

So wörtlich sagen es die beiden selbstverständlich nicht. Allmendinger firmiert als Chefin des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Und Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD), obwohl er nicht ihr direkter Vorgesetzter ist, wäre nicht amüsiert über solche Sätze.

Egal, auch so ginge es ihm nicht viel besser, wenn er hören könnte, dass die höchste deutsche Arbeitsmarktwissenschaftlerin im deutschen Haus des Lernens keinen Stein auf dem anderen lässt. Die Kindergärten – zu schlecht und zu wenig Ganztagsbetreuung. Die Schulen – lassen die Talente der Kinder verkümmern. Die Hochschulen – verrottet.

Dabei hält Allmendinger, 47, einst das Fräuleinwunder unter den deutschen ProfessorInnen, gar keine neue bahnbrechende Studie in Händen. Sie stellt nur mal bekannte Daten vor, kombiniert sie mit Pisa-Ergebnissen und blickt begründet in die Zukunft: Jobs für hoch Qualifizierte werden gewiss die sichersten sein – und sie werden mehr.

Allein, die Deutschen scheinen dafür überhaupt nicht gewappnet. Denn ihnen geht ja nicht nur der Nachwuchs aus, sondern sie setzen gar nicht auf Bildung und Qualifikation. „Ein Richtungswechsel ist nur möglich, wenn wir das Bildungssystem massiver in den Blick nehmen“, fordert IAB-Chefin Allmendinger. Denn, „die Bildungsexpansion ist seit über einer Dekade beendet.“ Will sagen: Es werden nicht mehr hoch Qualifizierte, sondern immer weniger. 1998 war etwa ein Drittel der Hochschulabsolventen unter 34 Jahren; im Jahr 2015 machen sie dagegen keine 20 Prozent mehr aus. Die große Mehrheit der Akademiker wird dann älter als 35 sein. Schrumpfung und Dequalifizierung gehen eine unheilige Allianz ein.

Die Zahl der Studierenden ist in Deutschland zu klein, gerade im Vergleich zu anderen Staaten, die bis zu 70 Prozent jedes Jahrgangs in die Hochschulen lassen. Die Ursache aber liegt weiter unten, in den Schulen: „Die Ausleseverfahren, die wir uns in unserem dreigliedrigen Schulsystem leisten, führen weder zu einer breiten Spitze von Eliteschülern, noch verhindern sie, dass wir beinahe 25 Prozent gering Gebildeter produzieren“, sagt Allmendinger. Und: „Kanadas und Finnlands Kinder sind doch nicht klüger, sie haben einfach andere Strukturen und können aus sich herausholen, was sie herausholen wollen.“

Der Osten der Republik ist das Musterbeispiel für diese Analyse. Dort laufen die Menschen buchstäblich davon, gerade die besser Qualifizierten. Mit, wie Allmendinger freundlich akademisch sagt, ungünstigen Folgen für die Bildungskomposition. Das heißt: noch weniger hoch Qualifizierte für den Osten. Und die neuen Länder haben nichts Dümmeres zu tun, als Studienplätze abzubauen.

Ist die Frau, die so etwas sagt, eine Spinnerin, eine depressive Schlechte-Laune-Macherin? I wo, sie ist eine fröhliche Person, die das Publikum auch mal mit einem Witz erfrischt. Als ihren Platz am Pult geräumt hat, tritt ein gesetzter Herr vor die Zuhörer – mit derselben Botschaft.

Nur dass Andrä Wolter einen Zusatz hat. Nicht nur zu wenige, schickt Deutschland durch das Bildungssystem auf den Weg nach oben, es sind auch immer dieselben: die Bildungselite reproduziert sich beharrlich selbst. „Kinder aus bildungsfernen Schichten verzichten auch dann häufiger auf ein Studium, wenn sie beim Abitur dieselben oder sogar höhere Leistungen aufweisen als Kinder aus bildungsnahen Familien.“ Es gibt, so Wolter, in Deutschland, „ein Defizit an individueller Leistungsgerechtigkeit, das sich innerhalb des Schulsystems kumulativ bis zur Schwelle des Hochschulzugangs aufbaut“. Maritim gesprochen: Das Wasser steht uns bis zum Halse – und der Pegel steigt.