Warten auf den Erlöser Ost

Oskar Lafontaines Auftritt bei den Montagsdemos war ein Knaller. Denn abstiegsgefährdete Ostdeutsche applaudieren jedem, der ihren Frust artikuliert – und über die Regierung schimpft

AUS LEIPZIGMICHAEL BARTSCH

„Frech wie Oskar“, das kommt an in diesen Tagen. Zumindest in dem deutschen Landstrich, der nie ganz aufgehört hat, „Zone“ zu sein. Wer am Montag nicht in der Leipziger Nikolaikirche war, deren Pfarrer Christian Führer auf Distanz zu Lafontaines Auftritt gegangen war, sondern unter den 20.000 Demonstranten auf dem Augustusplatz, vernahm weitgehende Zustimmung zu Oskar Lafontaines Auftritt bei den Montagsdemos. Jedenfalls erscheinen die Empörten auf der Straße weit weniger gespalten als die Organisatoren der Demos. Es ist ihnen egal, welcher Provenienz die Volksredner sind, wenn sie nur den strapazierten Nerv treffen.

Merkwürdig geschichtslos

Zu lange hat man sich selbst nie artikuliert, es nicht gelernt oder geübt und sich bei Wahlen eher verweigert. Das hat in Kleinstädten auch schon dazu geführt, dass vermeintliche „Opfer wie du und ich“ auftraten, die sich am Schluss als Nationalisten vom rechten Rand outeten. So erscheint auch ein Lafontaine merkwürdig geschichtslos. Sich mit seinem Werdegang, seinen Eitelkeiten und Widersprüchen auseinander zu setzen, ist ohnehin eher etwas für die Kaste der politischen Insider. Zu der rechnet ihn der zornige kleine Mann auf dem sozialen Abstellgleis gar nicht mehr so richtig. Relevante Ämter hat Oskar nicht mehr. Dafür Krach mit seiner SPD, das macht ihn sympathisch. Und wenn er nicht nur über seine Partei, sondern auch über die Opposition und die Parteien überhaupt herzieht, macht ihn das noch sympathischer. Deshalb lief der Vorwurf Pfarrer Führers ins Leere, die Montagsdemo werde für Wahlkampfzwecke missbraucht. Ziemlich einsam schlich er nach dem Friedensgebet ins Pfarrhaus zurück.

Ist der Lafontaine überhaupt noch in der SPD, fragte man sich am Augustusplatz? Oder in der neuen Linkspartei? Oder ist der gar schon ver-volkt? Jeder Außenseiter willkommen, Warten auf Parsifal, solange keiner aus der Mitte des Volkes kommt. „Politiker sind die größten Verbrecher!“, stand weithin sichtbar auf einem Plakat. Dem schlichteren Bürger ist auch kaum noch erinnerlich, dass Lafontaine einst als Bremser des deutschen Vereinigungsprozesses auftrat. Und wenn Hinweise darauf auftauchen, so geben ihm die Verlierer dieser Einheit nachträglich Recht. So, wie der letzte DDR-Finanzminister Walter Romberg aus der Ost-SPD vor einem schlagartigen Überstülpen der Marktwirtschaft gewarnt hatte, zögerte auch der Mann von der Saar und fiel damals im Osten durch.

Viele der Leipziger jenseits der 30, die jetzt wieder montags auf die Straße gehen, waren auch 1989 dabei. Die Legende von der Heldenstadt ist auch die ihre und musste sogar für olympische Utopien herhalten. Nicht nur in Leipzig wird von Demonstranten auffallend häufig die finale Situation von 1989 mit der heutigen verglichen und gleichgesetzt. So reden Menschen, die dabei sind, eine innerliche Wende nach der Wende zu vollführen. Die Geschichte war 1990 eben wirklich nicht zu Ende und wiederholt sich manchmal unter umgekehrten Vorzeichen. So gewinnt auch ein Lafontaine wieder an Reputation, sofern dies in den letzten Jahren überhaupt je ein Thema an ostdeutschen Stammtischen war. Wenn einer sagt, was man fühlt, ist das Legitimation genug. Und wenn er es mit leidenschaftlicher, sich fast überschlagender Stimme, klaren Sätzen und großen Gesten tut, umso mehr.

Lafontaine hat es ja geschickt vermieden, auch nur in den Geruch eines neuen Spalters der Nation zu geraten. Nicht zwischen Ost und West verlaufe die Kluft, sondern zwischen Arm und Reich. Proletarier und Alg-II-Empfänger aller Bundesländer, vereinigt euch! Vielleicht war er gewarnt. Im mittelsächsischen Döbeln beispielsweise war bereits ganz offen mehr Autonomie für den Osten, ein Zurück zu einer Konföderation oder einem Zustand zwischen Währungsunion und Beitritt 1990 gefordert worden. Jedenfalls eine Art ostdeutscher Nebenregierung, die die Interessen des enttäuschten Ostvolkes verträte.

Sperrig anachronistisch

Leipziger, daraufhin angesprochen, fänden dies auch „höchste Zeit“. So anachronistisch kann allerdings nicht einmal die PDS sein. Der stellvertretende sächsische Landesvorsitzende Michael Leutert lehnte es mit dem schlichten Hinweis auf die europäische Integration ab, zu diesem Thema zu sprechen. Den Namen Manfred Stolpe darf man im Zusammenhang mit einer gewünschten Ost-Interessenvertretung schon gar nicht mehr erwähnen. Beim Wahlkampfauftakt der Thüringer SPD im Juni fiel er durch, nach Sachsen wird der Brandenburger Exkönig erst gar nicht eingeladen. Eine bemerkenswerte Gegenbewegung zum scheinbaren Wiederaufstieg Lafontaines. Sic transit gloria mundi! Den ebenso sperrigen wie öligen Oskar aus dem fernen Saarland nun als ostdeutschen Volkstribun hochzujubeln, wäre aber sicherlich ebenso tumb wie seine in den Medien überwiegend vorherrschende Unterschätzung.