Putin, der Gefangene des Kaukasus

Der Kremlchef kann die Politik der Gewalt nicht ändern, selbst wenn er wollte: Sie ist Grundlage seiner Popularität und seines Rückhalts in der politischen Klasse. Ein Kompromiss gälte als Zeichen der Schwäche. Geheimdienst und Militär profitieren vom Krieg in Tschetschenien

MOSKAU taz ■ Seit Wladimir Putins Einzug in den Kreml hat der Terror in Russland ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Seit 2000 verdoppelte sich fast jedes Jahr die Zahl der Gewaltopfer: auf bislang knapp 600 allein im Jahr 2004. Der Popularität des Kremlherrn konnte die blutige Statistik, eine Folge insbesondere seiner sturen Gewaltpolitik gegenüber Tschetschenien, indes nicht viel anhaben. Nach wie vor halten zwei Drittel der Wähler zum Präsidenten, der ihnen Stabilität und Ordnung versprochen hatte. Kritik beschränkt sich auf Nischen einer marginalen Zivilgesellschaft.

Zurückhaltung und Desinteresse der Bevölkerung sind nicht auf die unter Putin gleichgeschalteten Medien zurückzuführen.Vielmehr begrüßte die Mehrheit der russischen Wähler die Entschlossenheit des Thronprätendenten, mit der er im Herbst 1999 versprach, das Tschetschenien-Problem ein für alle Mal aus der Welt zu räumen. Nach der Explosion von mehreren Wohnhäusern in Moskau marschierte die russische Armee im Oktober 1999 in Tschetschenien ein. Putin versprach „tschetschenische Terroristen überall und wenn nötig auch auf der Latrine auszuschalten“.

Die militante und aggressive Sprache verfing bei den Wählern. Drei Jahre später lud Putin einen französischen Journalisten, der in Brüssel gewagt hatte, nach Tschetschenien zu fragen, nach Moskau zur Beschneidung ein. Dort gebe es erfahrene Spezialisten, die so beschneiden könnten, dass nichts nachwachse.

Die russische Öffentlichkeit empfand die Tirade des Kremlchefs nicht als peinlich, sondern sie war im Gegenteil stolz darauf, dass ihr Chef auf internationaler Bühne die Dinge beim richtigen Namen genannt hatte.

An diesem Image eines unversöhnlichen Bezwingers des Kaukasus hält der Kremlchef fest. Seine Wahl und Popularität sind mit dem Kaukasusfeldzug verknüpft. Von Anfang an hat Putin auf die Vernichtung der Rebellen gesetzt, darauf beruht der Schulterschluss mit dem Großteil der Bevölkerung. Wenn er jetzt nachgäbe, bräche dieses Bündnis zwischen dem Premier und dem russischem Volk zusammen. Sofort würden Fragen laut, wofür so viel Blut vergossen wurde. Es würde sich zeigen, dass der kaltblütige Geheimdienststratege vorschnell und unüberlegt aus wahltaktischen Motiven einen Krieg vom Zaun gebrochen hat.

Die russische Gesellschaft, die sich mit friedlichen Regulierungen von Konflikten schwer tut, würde ihm ein Nachgeben, selbst wenn Putin es wirklich wollte, nicht verzeihen. Die Gewalt des Krieges hat auch die russische Gesellschaft nachhaltig brutalisiert, die selten auf Dialog oder Kompromiss setzt, um Konflikte auszutragen. Putin stünde als Verlierer und Schwächling da.

Wladimir Putin ist in vielfacher Hinsicht ein Gefangener. Ein Gefangener des Kaukasus, einer gnadenlosen Gewaltgeschichte und einer engen Weltsicht, die er mit Politikern in seinem Umfeld teilt. Der Kremlchef hat sich fast ausschließlich mit Vertretern der Sicherheitskräfte umgeben. Fast 70 Prozent der neuen Posten unter Putin sind an Mitarbeiter aus den Geheimdiensten vergeben worden, für die Kompromisse gleich bedeutend mit Schwäche sind. Diese Entourage ist die einzige Hausmacht, auf die sich der Kremlchef nunmehr stützt. Sie würde dem Präsidenten keine Möglichkeit geben, ungestraft vom eingeschlagenen Weg abzuweichen.

Ähnlich steht es um Generalität und Militärs, die eine Friedenslösung als eine zweite Kapitulation begreifen würden. Putins Vorgänger Boris Jelzin konnte seine Fehlentscheidung für den ersten Tschetschenienkrieg 1996 einsehen und Frieden schließen. Die Generalität spurte, weil sie ihn fürchtete. Diese Achtung genießt der jetzige Kremlchef jedoch nicht. Dazu kommt, dass Geheimdienst und Militär tief in die Kriegsgeschäfte in der Region seit fünf Jahren verwickelt sind. Frieden hieße für sie, auf die ertragreichen Pfründen zu verzichten.

Nach außen hin hat der Kreml gekonnt ein von Geschlossenheit und Stabilität getragenes Selbstbildnis entworfen. Dies ist nur Fassade, hinter der keine einträchtige Führungsschicht steht. Auch die Regierungspartei „Einiges Russland“ ist nur ein vorübergehendes Zweckbündnis, das jederzeit zerfallen kann, wenn die Macht sich als das entpuppt, was sie ist: schwach.

KLAUS-HELGE DONATH