Auf dem Meer Rum trinken

Irrsinn und rückwärts laufende Klischees: In der Retrospektive läuft Nino Pagots Zeichentrickfilm „Die Gebrüder Dynamit“, im Wettbewerb François Ozons „5 x 2“

55 Jahre alt ist der Eröffnungsfilm der Retrospektive, „I fratelli dinamite“ („Die Gebrüder Dynamit“). Es ist der erste in Italien produzierte abendfüllende Zeichentrickfilm; Regie führte der 1972 verstorbene Nino Pagot. Vergleicht man ihn mit dem offiziellen Eröffnungsfilm, „The Terminal“, weiß man sofort, warum jener auf der Stelle tritt: weil bei Steven Spielberg aller Witz und alle Absurdität nur dazu dienen, das Vertrauen in das Gute im Menschen zu befördern. Deswegen hat es einen falschen Unterton, wenn sich der Regisseur in der Pressekonferenz zu seinem Film mit Jacques Tati in Verbindung bringt. Spielberg fehlt das Talent für Irrsinn und Unbotmäßigkeit.

Davon hat „I fratelli dinamite“ reichlich. Pagots Film ist Exzess: Farbexzess, Musikexzess, Fantasieexzess. Den drei Helden, Din, Don und Dan – sie bilden eine anarchische Version von Tick, Trick und Track – ist nichts heilig außer dem „verspielten Geist“, mit dessen Hilfe sie gegen den „Ernst der Welt“ antreten. So schlittern sie von Abenteuer zu Abenteuer, erleiden – als dickleibige Kleinkinder noch – Schiffbruch und sausen auf einer Rumkiste über ein wunderbar stürmisch animiertes Meer. Den Rum trinken sie und singen dazu, als ragten um sie herum die Wellen nicht wie Türme in die Höhe.

Nachdem sie auf einer einsamen Insel gelandet sind, bedient sich eine zufällig des Weges kommende Kuh am Rum. Wie sie darauf reagiert – sie nimmt verschiedene ungesunde Färbungen an, ihre Gesichtszüge entgleiten und ihr Körper verliert jede Spannung, was aussieht, als laufe sie aus –, gehört zu den schönsten Szenen der ersten Festivaltage. Ganz zu schweigen vom anschließenden Verzehr tropischer Früchte: Die Kinder und die Tiere mästen sich auf eine feiste, fast sexuell konnotierte Art. Später haben sie Gelegenheit, den Teufel zu einem Stierkampf herauszufordern (dessen Schnurrbart versteift sich so, dass er zu Hörnern wird), und noch später flanieren sie dann auf dem Boden der Lagune von Venedig, wo sie einen Fisch (auch er mit Schnurrbart) nach dem Weg fragen. Auf Italienisch, Französisch, Englisch und Chinesisch.

Das Kontrastprogramm zum Aberwitz von „I fratelli dinamite“ ist François Ozons Wettbewerbsbeitrag „5 x 2 (Fünf mal zwei)“: die Geschichte einer Ehe, erzählt in umgekehrter Richtung, ein Film, der Gefühle weniger erzeugt, als dass er sie erforscht. Den Auftakt der fünf Stationen macht der Termin vor dem Scheidungsrichter, das Ende bildet ein Bild der ersten Verliebtheit: Gilles (Stéphane Freiss) und Marion (Valeria Bruni-Tedeschi) gehen langsam ins Meer, die Sonne ist schon im Begriff unterzugehen, nach und nach werden die beiden immer kleiner, bis sie in der Tiefe des Bildes zu undeutlichen Punkten verschwimmen. Ein klassischer Filmschluss und zugleich eine Einstellung wie aus einer Tourismusbroschüre.

Mit ihr trifft Ozon eine riskante Entscheidung. Wenn er zeigen will, wie sehr sich die scheinbar intimen Augenblicke einer Liebe aus dem abgenutzten Repertoire romantischer Bilder speisen, so steckt er in dem Dilemma, dass auch er sich aus diesem Repertoire bedient. Es rettet die Szene vorm Kitsch, wenn man sie in den Kontext des Filmes stellt: Man weiß ja zu diesem Zeitpunkt, dass das Ende nicht den Auftakt einer romantischen Liebe bildet, sondern den Ausgangspunkt für eine Beziehung – mit all dem Alltag, den Verletzungen, den Regulierungen, aber auch den Freuden, die das bedeutet.

Abgesehen von der Ambivalenz dieser letzten Szene ist „5 x 2“ ein souveräner Film mit einer hinreißenden Valeria Bruni-Tedeschi – hinreißend, weil sie es wie wenige Schauspielerinnen versteht, in ihren Figuren Stärke mit Verletzlichkeit zu paaren. Ozon setzt interessante Spiegelungen ein; die Sequenz vor dem Scheidungsrichter beispielsweise ähnelt in Dialog und Einstellungsfolge der im Standesamt. Was die Schauplätze angeht, ist der Regisseur ohnehin in seinem Element: Die Art, wie er die Wohnung von Gilles und Marion im zweiten Teil – während eines Abendessens mit Gilles’ schwulem Bruder und dessen Freund – in Szene setzt, ruft seine Fassbinder-Verfilmung „Tropfen auf heiße Steine“ auf, und die Szenen am Strand erinnern daran, wie Charlotte Rampling in „Sous le sable“ mit ihren müden Augen auf das Meer hinausblickte. CRISTINA NORD