Satz für Satz ein Dialektiker

Der Landkreis Schwarzenberg, die Arbeit der Bergmänner und die Literatur: Volker Braun erforscht „Das unbesetzte Gebiet“

VON JÖRG MAGENAU

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, wurde ganz Deutschland von alliierten Truppen besetzt. Ganz Deutschland? Nein. Der Landkreis Schwarzenberg im Erzgebirge … – doch hier enden mögliche Parallelen mit dem kleinen gallischen Dorf. Schließlich waren die Alliierten keine römischen Invasionstruppen, sondern kämpften Hitlerdeutschland nieder. Schwarzenberg leistete glücklicherweise keinen tapferen Widerstand. Es wurde vergessen. Die Amerikaner blieben westlich stehen, die Russen östlich, sodass ein paar Antifaschisten die Gunst der Stunde nutzten und die Verwaltung in die Hand nahmen. Bis am 25. Juni 1945 ein Kapitän der Roten Armee mit zehn Soldaten und einer Dolmetscherin vorfuhr und die sowjetische Kommandantur einrichtete. Ende des Experiments.

Der gebürtige Chemnitzer Stefan Heym hat diese historische Episode in seinem 1984 erschienenen Roman „Schwarzenberg“ schon einmal gründlich beschrieben. Bei ihm wurde daraus die recht heroische Legende einer Revolution aus eigener Kraft. Den Versuch, eine freie Republik zu etablieren, verstand er zumindest als Utopie eines dritten Weges zwischen den Machtblöcken. Nun, im postutopischen Zeitalter, hat sich der gebürtige Dresdner Volker Braun dieser Geschichte aus der sächsischen Heimat angenommen. Seine Erzählung über „Das unbesetzte Gebiet“ bekommt den burlesken Ton einer Farce, in der Menschen über die herumliegenden Gelegenheiten eher stolpern, als etwas daraus zu machen. Aus den Höhen der Ideologie wird das Geschehen gewissermaßen ins Volkseigentum überführt. Dialektale Einsprengsel –„Die Siecher“, „Mehr als 15 warn mer nich“ etc. – zeigen die Bodenhöhe an.

Für den Sozialisten Braun stellt sich Geschichte in ihrem Verlauf ähnlich dar wie für Peter Weiss in der „Ästhetik des Widerstands“ – als Kette von Niederlagen und verpassten Chancen. Und doch ergibt sich aus all dem Versagen und Untergehen immer noch und immer wieder neue Hoffnung. Die Möglichkeiten zur Veränderung waren ja da, sie wurden nur nicht ergriffen oder leichtfertig verspielt.

Braun fragt in all seinen Büchern hartnäckig nach dem Menschen und den Machtverhältnissen, in denen er existiert: Ist er ein verantwortliches Wesen oder bloß durch die gesellschaftlichen Umstände determiniert? Kann er aus all seinen Bindungen heraustreten und die Geschichte selbst in die Hand nehmen? Kann er mehr sein als ein egoistischer Fresser, den nur das eigene Überleben kümmert? Braun ist Dialektiker in jedem Satz. Listig versucht er, der Sprache einen verborgenen Sinn abzuluchsen und in jeder Harmlosigkeit einen Abgrund aufzureißen. Er sucht in den Worten nach Bedeutung, dreht an ihnen, bis die Verhältnisse sich verraten, montiert und collagiert Zusammengehörendes, das in der Wirklichkeit so oft getrennt erscheint: Ursachen und Wirkungen zum Beispiel. Als „konspirativen Realismus“ hat er dieses Verfahren einmal bezeichnet. Schwarzenberg als Niemandsland flüchtiger Möglichkeiten ist ein Experimentierfeld für diese Grundfragen.

Historisch betrachtet war es nur eine Atempause, denn es war klar, dass daraus nichts werden würde. Wenn die Amerikaner geahnt hätten, dass in den Bergen um Aue nicht nur Eisenerz, sondern auch Uran zu finden wäre, wäre die Geschichte wohl anders verlaufen. Mit der „Wismut“ entstand hier schließlich ein abgeschirmter Staat im Staate unter sowjetischer Kontrolle. Über diese List der Geschichte kann Braun sich noch heute amüsieren.

Doch darüber hinaus wird ihm Schwarzenberg zur großen Metapher des eigenen Denkens in der Gegenwart: „Denn es ist jetzt mein Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt.“ Doch welches Rathaus sollte man im unbesetzten Gebiet der eigenen Seele erobern? Auf welche Truppen warten wir noch? In der Erzählung „Bodenloser Satz“ befasste Braun sich schon 1988 mit der Zerstörung der Landschaft im sächsischen Tagebaugebiet. Für den ökonomisch unsinnigen Gewinn von ein paar Stunden Stromproduktion wurden ganze Dörfer weggebaggert. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Braun wusste, worüber er schrieb: Er war in den Jahren 1958/59 Tiefbauarbeiter im Kombinat Schwarze Pumpe. Doch mit seinem „bodenlosen Satz“ grub er sich in tiefere Gesteinsschichten der Geschichte. Mittlerweile ist er gar unter Tage unterwegs. „Im schwarzen Berg“ nennt er eine Sammlung von Prosaminiaturen, die die Erzählung vom „unbesetzten Gebiet“ kommentieren. „Das bergmännische Verfahren, sosehr es im Dunkeln gräbt, ist das der Literatur gemäße“, heißt es hier. So wie ein Bergmann Flöze anschneidet und Proben zutage fördert, so gräbt Braun in den Stollen der Geschichte und bringt erstaunlichste Dinge ans Licht.

Als materialistischer Denker behaut er vertrautes Material: die Literatur. Die Proben, die er dem schwarzen Berg entnimmt, verweisen auf Kant und Bloch, Kleist und Hebel, Brecht und Peter Weiss, selbstverständlich auf Stefan Heym, vor allem aber auf Franz Fühmann, der ja tatsächlich mit Bergleuten eingefahren ist und bis zu seinem Tod an einem unvollendeten Buch mit dem Titel „Im Berg“ arbeitete. „Man müsste ihm nachsteigen“, schreibt Braun heute in einem Epitaph für Fühmann. „Aber sein Streb ist verschüttet, und wo er die Sprenglöcher setzte – ‚Parteilichkeit, Schriftsteller im Arbeiterstaat‘ – fährt kein Hunt mehr hin. Der ganze Schacht ist stillgelegt.“ Das stimmt im wörtlichen und im metaphorischen Sinn – so wie es bei Braun immer mehrere übereinander verlaufende Bedeutungsebenen gibt.

Eine mörderische Geschichte von unerlaubter Liebe und verbrauchter Hoffnung erzählt Braun unter dem Titel „Ein anderer Woyzeck“. Sie spielt ebenso wie die Geschichte vom Brandstifter Christian Sporn in der Gegend um Schwarzenberg, allerdings im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, als der Wiener Kongress tagte und Sachsen halbiert wurde. Auf diese Justizgeschichten, in denen sogar ein Vorfahr des Autors, der Müller Friedrich Braun aus Erlbach, ins Spiel kommt, stieß Braun während seiner Recherchen in der Region. Sie sind nun in einem Insel-Bändchen erschienen. Es ist rätselhaft, warum der Suhrkamp Verlag sie nicht in das Schwarzenberg-Buch integrierte. Denn da gehören sie hin: als tiefere Schichten der Geschichte dieser Region.

Volker Braun: „Das unbesetzte Gebiet/ Im schwarzen Berg“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2004, 132 Seiten, 16,80 Euro Volker Braun: „Der berüchtigte Christian Sporn. Zwei Erzählungen“. Insel Verlag, Frankfurt/Main und Leipzig 2004, 76 Seiten, 11,80 Euro