Russlands Führung drückt sich

Trotz Versagens der Sicherheitskräfte beim Geiseldrama in Nordossetien bleiben personalpolitische Konsequenzen bislang aus. Behördenangaben sind widersprüchlich. Chefredakteur der „Iswestija“ wegen kritischer Berichte über Tschetschenien gefeuert

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

In ganz Russland herrscht Staatstrauer. Dutzende Familien trugen auch gestern in Nordossetien ihre Angehörigen zu Grabe. Und es werden nicht die letzten sein. Dennoch liegt keine Friedhofsstille über dem Land. Russlands Bevölkerung ist schockiert. Die Führung des Landes ist von den Bildschirmen verschwunden. Russland wundert sich, was macht unser Präsident?

Die politische Führung ist anscheinend gelähmt. Drei Tage nach der Geiselnahme von Beslan hat die Tragödie immer noch keine personalpolitischen Konsequenzen nach sich gezogen. Obwohl außer Frage steht: Die Sicherheitsorgane haben auf ganzer Linie versagt. Kein Minister, Sicherheitschef oder Präsidialbeamter musste abdanken. Stattdessen tobt der Kampf hinter den Kulissen der Macht, wer für das Desaster zu guter Letzt den Kopf hinhält. Vor den Leichenbergen von Beslan ringt der Kreml um sein Image.

Unterdessen brodelt es in der nordkaukasischen Krisenregion. In Nordossetien stellten aufgebrachte Bürger dem Präsidenten Alexander Dsasochow ein Ultimatum. Sollte er sein Amt nicht niederlegen, drohen sie, den Rücktritt durch Gewalt zu erzwingen. Das sind keine leeren Drohungen. Wie im ganzen Kaukasus ist auch die Bevölkerung Nordossetiens bewaffnet. Wut und Trauer richten sich gegen die Politiker, die das Blutbad zugelassen haben.

Sie richten sich aber auch gegen die in der Republik lebende Minderheit der Inguschen. Einheiten der Miliz bildeten am Wochenende bereits Kordons im Siedlungsgebiet der Inguschen im Rayon Prigorodny, um Osseten von Pogromen abzuhalten. Bei Ausschreitungen vor zwölf Jahren waren 600 Menschen getötet worden und tausende Inguschen mussten Zuflucht in der Nachbarrepublik suchen.

Sollte es auch ein Motiv der Terroristen gewesen sein, diesen Konflikt neu zu entfachen, dann droht die Saat aufzugehen. Bislang galt Nordossetien als eine ruhige Republik, die in der Region die Rolle eines verlässlichen Moskauer Vorposten erfüllte.

Noch immer herrscht Unklarheit, wie der Sturm der Schule Nummer 1 vonstatten ging. Nach Berichten der Iswestija waren die Spezialeinheiten „Alfa“ und „Wimpel“ am Einsatz zunächst nicht beteiligt. Nach offizieller Darstellung löste eine Explosion den Sturm aus. Dem widerspricht die Iswestija, wonach nordossetische Bürgermilizen die Terroristen angegriffen haben sollen. Die Geiselnehmer seien in Panik geraten. Ist dies der Fall, so gab es vor Ort keine klaren Kommandostrukturen zwischen den verschiedenen Sicherheitsorganen.

Die russischen Behörden geben kaum Informationen über den Stand der Ermittlungen preis. Erstaunlich ist, dass auch zwischen den Institutionen keine Abstimmungen stattfinden. So sind die Angaben widersprüchlich. Die Aufklärungsarbeit leisten russische Zeitungsjournalisten vor Ort. Das führte zu Konsequenzen. Gestern wurde der Chefredakteur der Iswestija, Raf Schakirow, entlassen. Die Zeitung hatte am Wochenende schockierende Fotos aus Beslan veröffentlicht. „Nekrophilie“ warf man ihm vor. Schakirow hatte in den letzten Wochen die wohlwollende Linie gegenüber dem Kreml verlassen und mit Berichten aus Tschetschenien dessen Propaganda entlarvt.

Offiziell sind alle Terroristen erschossen oder in zwei Fällen dingfest gemacht worden. Der Kommersant hat unterdessen eine Unterhaltung zweier Ermittlungsbeamter aufzeichnen können. Demnach haben einige Terroristen Zivilkleidung anlegen können und sind flüchtig. Die Ermittler erwähnten auch, dass sie über die Zahl der Helfershelfer, die die Geiselnahme vorbereitet haben und die im Umkreis der Sicherheitsbehörden vermutet werden, keine genaueren Kenntnisse besitzen.

Die Schule in Beslan war erst in den Sommerferien von einer Bauarbeiterbrigade aus Tschetschenien renoviert worden. Das Innenministerium Nordossetiens bestätigte, dass unter den getöteten Terroristen einige jener Bauabeiter entdeckt worden seien. Im Keller der Schule stießen die Ermittler auf ein Waffenarsenal, das wohl vorher angelegt worden war. Trotzdem nahmen die Geiselnehmer am Tag des Überfalls noch Waffenladungen mit, die auf zwei geschlossene Militär-Lkws verteilt waren.

Dass die Polizei bestochen wurde oder sogar Komplizen in den Sicherheitsorganen sitzen, scheint inzwischen unstrittig. Das gilt nicht für die arabischen Söldner und einen Afrikaner, die unter den Geiselnehmern gewesen sein sollen und die der Kreml als Beweis für das Wirken des „Internationalen Terrorismus“ in Russland heranzieht. Der Schwarze entpuppte sich als ein Weißer mit verrustem Gesicht. Um die Araber ist es leise geworden. Gäbe es sie, hätte das staatliche Fernsehen die Leichen sicher längst präsentiert. So war es bislang. Nun ist nach dem 3. September auch in Russland nichts mehr so wie vorher.