Traumkino

Lido-Kino (7): Zwei japanische Regisseure retten auf ganz unterschiedliche Weise die Traumlogik für den Film

Träumend sehe ich eine junge Japanerin. Sie liegt auf einem Bett, die Laken sind zerwühlt, offenbar hatte sie einen unruhigen Schlaf. Dann wechselt die Szenerie. Ein Helikopter kreist hoch in der Luft, ich weiß nicht, ob Tag oder Nacht ist. Eine Lanze wird geworfen. Wer sie wirft, bleibt unklar. Die Waffe ist auf die junge Frau gerichtet. Ob sie sie trifft, verrät mir mein Traum nicht.

Wer viel ins Kino geht, wird dieses Erlebnis kennen: Statt an den Tagesresten zu arbeiten, kümmern sich die Träume um die Reste des Kinos. Dabei nehmen sie bisweilen selbst die Form eines Filmes an, etwa wenn sie Verfolgungsjagden in Szene setzen. Woher die Bilder von der Japanerin, dem Helikopter und der Lanze kommen, ist leicht zu erraten: aus Takashi Miikes Film „Izo“, einem Beitrag zur Orizzonti-Programmreihe. Der Film ist zunächst einmal nicht viel mehr als ein über zweistündiges Gemetzel. Es beginnt mit der Hinrichtung eines Samurais. Er hängt am Kreuz, zwei Soldaten durchbohren ihn mit ihren Lanzen, was entfernt an die Kreuzigungsszene in der Bibel erinnert. Es spritzt viel Blut, so viel, dass es mir ein bisschen schwer fällt, den Blick auf der Leinwand zu lassen. Im Folgenden kommt dieser Samurai, Izo, als Rachegeist aus dem Totenreich zurück und bringt ausnahmslos jeden um, der sich ihm in den Weg stellt. Die Ästhetisierung des Schwerthiebs, wie sie zuletzt Takeshi Kitano in „Zatoichi“ unternahm, wird hier auf die Spitze getrieben. Der Erfindungsreichtum des Regisseurs bringt immer neue, immer unwahrscheinlichere Tötungsarten hervor. Etwa wenn Izo die eigene Mutter umbringt: Sein Hieb zerteilt ihren Körper unterhalb der Brust in zwei Teile. Der obere hält sich noch eine Weile mit ausgestreckten Armen zwischen zwei Baumstämmen, und während die Mutter an der Schnittfläche ausblutet, redet ihr Mund einfach weiter.

Was ist das denn für sick shit, könnten Sie jetzt mit einigem Recht einwenden. Aber Miike macht noch etwas anderes in „Izo“: In dem Maße, wie er auf jeden sinnstiftenden Handlungsrahmen verzichtet, montiert er in das Schlachten Bilder und Sequenzen, die eine andere Dimension eröffnen. Ähnlich wie Jean-Luc Godard seinen neuen Film, „Notre musique“, mit einer visuellen Tour de Force durch die Kriege und Krisen des letzten Jahrhunderts eröffnet, lässt Miike Archivbilder paradierender Soldaten, fallender Bomben und aufquellender Atompilze passieren, mal rötlich, mal gelblich eingefärbt, und manchmal schaut uns ein kleines Kätzchen an – mit einem gesunden und einem mutierten Auge. Oder der Held wandert durch eine Wiese, während die Gespräche der Blumen zu hören sind. Ob all das Miike als legitimen Erben der Art Theatre Guild, der japanischen Nouvelle Vague also, qualifiziert, weiß ich in der Hitze des Festivalgeschehens nicht zu beurteilen – wohl aber, dass es ihm ganz offenkundig darum zu tun ist, die Logik des Traums in die Logik des Kinos zu überführen. Und das ist ihm gelungen.

Ein anderer Regisseur, der die Traumlogik fürs Kino rettet, ist Hayao Miyazaki. Doch wo Miike Albträume in Szene setzt, entscheidet sich Miyazaki für die heitere Vision. In Deutschland wurde der Regisseur mit den Animationsfilmen „Prinzessin Mononoke“ und „Chihiros Reise ins Zauberland“ bekannt (Letzterer erhielt 2002 den Goldenen Bären der Berlinale, ex aequo mit Paul Greengrass’ „Bloody Sunday“). Sollte sein neues Oeuvre, „Hauro no ugoku shiro“ („Howls wanderndes Schloss“) im Wettbewerbsprogramm keinen Preis gewinnen, wäre das ein großer Irrtum der Jury. Denn der animierte Kosmos von „Hauro no ugoku shiro“ birgt so viele Wunder, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt: ein sprechendes Herdfeuer namens Calcifer, ein junges Mädchen namens Sophie, das zu einer alten Frau wird, weil es mit einem Zauberspruch belegt wurde und fortan zwischen unterschiedlichen Altersstufen changiert, ein wanderndes Schloss, das die Gestalt eines Tiefseefischs mit der eines eisernen Apparats kombiniert. Und wie im Traum kann sich belebte in unbelebte Materie verwandeln. CRISTINA NORD