Das Video mit der Geheimbotschaft

In Russland ist ein Videofilm der Geiselnahme von Beslan veröffentlicht worden. Die Bilder bieten keine neuen Informationen. Aber dass es sie überhaupt gibt, straft die Informationspolitik der russischen Behörden während des Geiseldramas Lügen

AUS MOSKAUKLAUS-HELGE DONATH

Seit Dienstagabend gibt es Bilder. Eine Videoaufzeichnung der Geiselnahme von Beslan lief am späten Dienstagabend im russischen Fernsehsender NTW in der täglichen Informationssendung „Strana i Mir“ (Land und Welt). Die Aufnahmen müssen wenige Stunden nach der Besetzung der Schule am 1. September gemacht worden sein. Zwei vermummte Terroristen und eine schwarz gekleidete Geiselnehmerin mit einer Pistole sind zu sehen. Ein Zündkabel teilt die Sporthalle, in der die Kinder gefangengehalten wurden, der Länge nach in zwei Hälften. Beiderseits des Kabels hocken Kinder und Erwachsene dicht gedrängt auf dem Boden, auf dem Blutspuren zu sehen sind. Ein vermummter Terrorist macht sich in der Mitte der Halle an einem Sprengsatz oder einem Zünder zu schaffen (siehe Foto). Quer über die Halle ist zwischen zwei Basketballkörben eine Leine gespannt, an der eine Plastikbombe baumelt. Sie soll es gewesen sein, die später detonierte und damit den Sturm auf die Schule auslöste.

An der Innenwand steht ein Terrorist mit dem linken Fuß auf einem Buch, in dem sich anscheinend ein weiterer Sprengsatz befindet. Ein kleiner Junge mit erhobenen Händen starrt den maskierten Geiselnehmer an. Erstaunlich ruhig ist es, von Panik ist nichts zu spüren.

Im Hintergrund ist die Stimme eines Terroristen zu hören: „Wartet noch, bringt die Kinder noch nicht hierher, wartet, bis alle andern weggebracht sind.“ Ein anderer Geiselnehmer spricht leise über Handy – zu leise, um es zu verstehen.

Eines ist nunmehr klar: In der Sporthalle waren weit mehr Menschen, als der russische Krisenstab zunächst angegeben hatte. Es müssen mehrere hundert gewesen sein. NTW sprach von 1.000 Geiseln. Der Krisenstab hatte am ersten Tag der Geiselnahme 150 genannt und später 350 eingeräumt. Auch das war gelogen. Gestern wurde die endgültige Zahl von über 1.200 Geiseln bekannt gegeben.

Auf Anfrage sagte NTW, das Videoband sei dem Sender von einer „journalistischen Quelle“ zugespielt worden. Das dürfte indes nicht ganz den Tatsachen entsprechen und ist darauf zurückzuführen, dass sich Journalisten in Russland einer Strafverfolgung aussetzen, wenn sie im Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen Informationen preisgeben, die vom Geheimdienst auch im Nachhinein als gefährlich eingestuft werden können. Beobachter gehen davon aus, dass in Wirklichkeit der FSB-Geheimdienst die Aufnahmen weitergeleitet hat.

Unklar ist, seit wann die Behörden die Aufnahmen haben. Es ist schwer vorstellbar, dass sie erst hinterher in den Ruinen der Schule gefunden wurden. Von Videokassetten der Geiselnehmer war vielmehr schon während der Schulbesetzung mehrfach die Rede gewesen. Der Krisenstab behauptete damals aber, eine ihm zugespielte Kassette sei leer. Daher wüssten sie weder, was genau im Innern der Schule los sei, noch welche Forderungen die Geiselnehmer stellten. Als am Donnerstag letzter Woche, dem Tag vor dem Ende der Geiselnahme, der vom Kreml kaltgestellte Expräsident Inguschetiens, Ruslan Auschew, 26 Geiseln befreite, soll auch er eine Kassette mitgenommen und versprochen haben, sie Russlands Präsident Wladimir Putin zukommen zu lassen.

Unabhängige Printmedien zweifelten seit den ersten Stunden des Dramas nicht daran, dass der Kreml sehr früh über das Geschehen in der Schule informiert war. In der Moscow Times vermutete die bekannte Journalistin Julia Latynina gestern, Putin habe wenige Minuten nach Beginn der Besetzung die Forderungen der Terroristen auf dem Tisch gehabt. Latynina hat bereits unzählige Korruptionsskandale innerhalb der Staatsapparate aufgedeckt. Als die Terroristen die offizielle Zahl von 350 Geiseln vernahmen, schreibt sie weiter, hätten sie sich über die Desinformation geärgert und gedroht, bis auf 350 alle übrigen Geiseln umzubringen. Auch davon ließ der Kreml sich nicht beeindrucken.

So verdichten sich die Hinweise, dass der Kreml bewusst nichts unternommen hat, das Leben von Geiseln zu retten. Putin lehnt die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission ab.