Lebende und Untote

Lidokino (8): Unvermutet bricht das Fantastische in die Filmwirklichkeit ein – und macht dabei Schwierigkeiten

Erstaunlich, wie viele Untote die diesjährige Mostra heimsuchen. „Rois et reine“ von Arnaud Desplechin etwa lässt Pierre, den verstorbenen Mann der Protagonistin Nora, auftreten. Beim ersten Mal geschieht dies noch erkennbar als Traum: Nora schlägt die Augen auf, nachdem der Tote zu sehen gewesen ist. Später schaut Pierre vorbei, als sei er eine Figur wie alle anderen. Noch später spricht Noras Vater, nachdem er gestorben ist, aus einem betörend gefilmten Nichtort zu uns. Seine Gestalt erscheint in leichter Unschärfe vor grünlichem Hintergrund – es sieht aus, als flirrte sie ein wenig: Vielleicht nur ein Produkt der Fantasie der Protagonistin?

Takashi Miikes „Izo“ wiederum lässt einen Samurai aus dem Totenreich zurückkehren. Und der US-Regisseur Jonathan Glazer bedient sich in seinem Wettbewerbsbeitrag „Birth“ eines Zehnjährigen, der behauptet, der vor Jahren verstorbene Ehemann von Anna (Nicole Kidman) zu sein. Warum, das ist offensichtlich: Anna steht im Begriff, erneut zu heiraten, und die innere Unruhe, von der sie deswegen befallen wird, manifestiert sich in der Figur des Jungen.

„Birth“ hat zwei schöne Szenen: die erste, in der ein Jogger im verschneiten Central Park unterwegs ist. Er trabt unter einem Brückenbogen hindurch, beschreibt einen großen Bogen, und als er erneut unter der Brücke ist, bricht er zusammen. Die zweite, anschließende Szene zeigt ein Neugeborenes unter Wasser. Sie bleibt bis zum Schnitt rätselhaft. Was macht das Kind unter Wasser? Warum steht sein Mund offen? Die Art, wie die Bewegung des Wassers die Leinwand in Wellen legt, macht daraus ein aufregendes Bild.

Doch was folgt, ist enttäuschend. Glazer steckt Nicole Kidman in gedeckt gefärbte Kleidungsstücke, so dass sie sich kaum noch von den gedeckt gefärbten Wohlstandsarrangements im Hintergrund abhebt. Der Film tut bedeutsam und zwingt seine Protagonistin zu anämischem Gebaren. Sein Gebrauch des Fantastischen ist so leicht zu entschlüsseln, dass nichts Beunruhigendes bleibt. Es ist eben ein Fehler, Filme nur aus einem Grund in den Wettbewerb eines A-Festivals einzuladen: damit jemand wie Nicole Kidman über den roten Teppich flaniert.

„Les Revenants“ („Die Rückkehrer“) von Robin Campillo behandelt die Untoten als logistisches Problem. Eines Tages gehen sie durchs Friedhofstor, und fortan haben die Behörden alle Hände voll zu tun: erkennungsdienstliche Behandlung, Bereitstellung von Notquartieren, Rückführung in die Familien. Zunächst geht alles gut, auch wenn sich Unterschiede zwischen den Rückkehrern und den Lebenden ausmachen lassen. Die Körpertemperatur der Untoten ist niedriger, so dass sie mit Hilfe von Infrarotkameras sofort entdeckt werden, sie sind langsamer, und an Kommunikation nehmen sie nicht wirklich teil. Nach und nach wächst das Fremde, und aus dem Versuch der Integration wird auf Seiten der Lebenden das Bestreben, zu kontrollieren und zu verwahren. Mit parabelhafter Deutlichkeit inszeniert Campillo hier eine Situation, für die man Analogien in der Gegenwart kennt: etwa, wie hiesige Gemeinden mit Kriegsflüchtlingen umgehen.

Das Schöne daran ist, dass das Parabelhafte nie ganz von dem Film Besitz nimmt. Weder die toten noch die lebenden Figuren nehmen ihre Kondition als fantastisch wahr; das bleibt den Zuschauern überlassen. Indem Campillo das Ungeheuerliche nicht als solches inszeniert, lässt er es umso nachhaltiger wirken.

CRISTINA NORD