Sätze ohne Ufer

Die Unzuverlässigkeit der Sprache, die Fallstricke der Kommunikation und die Schönheit formvollendet formulierter Bandwurmsätze: Javier Marías’ neuer Roman „Dein Gesicht morgen“

VON KATHARINA GRANZIN

Die meisten Schriftsteller, so lautet eine bekannte Halbwahrheit, schreiben immer wieder ein und dasselbe Buch. Für Javier Marías müsste dieser Satz wohl etwas variiert werden. An wiedererkennbaren Merkmalen fehlt es seinen Büchern dabei nicht. Die Eleganz und Eloquenz seiner Prosa, in der Regel von der großartigen Übersetzerin Elke Wehr ins Deutsche gebracht, hebt ihn aus der Masse der hierzulande erscheinenden Belletristik heraus. Wie kaum ein anderer ist er in der Lage, mit seinem Schreiben linguistischen Genuss zu bereiten, was nicht das schlechteste Markenzeichen ist. Gleichzeitig fungiert die Sprache selbst als eines der Themen, die sich durch all seine Bücher ziehen.

Mit seinen Romanen hat es dabei eine besondere Bewandtnis. Je mehr davon erscheinen, desto mehr verschwimmen sie ineinander. Es ist nicht einmal so, als wäre es jedes Mal dasselbe Buch; sondern eher, als sei jedes nur Teil eines großen Fortsetzungsromans. Marías’ Stil unterstreicht diesen Eindruck. Wer sich an seine vollendet formulierten Bandwurmsätze gewöhnt hat, wird von dieser Prosa so zuverlässig mitgetragen wie von einem langen, ruhigen Fluss, dessen Versiegen am Ende eines jeden Romans willkürlich und allzu plötzlich scheint, als liefe er nur eine Zeit lang unterirdisch und müsste an anderer Stelle wieder zum Vorschein kommen.

Dieser Eigenart trägt der Autor nun offensiv Rechnung, indem er mit „Dein Gesicht morgen“ tatsächlich einen Fortsetzungsroman vorlegt, dessen erster Teil mit dem Untertitel „Fieber und Lanze“ gerade auf Deutsch erschienen ist. (Teil zwei erscheint noch dieses Jahr im Original.) Seinerseits setzt dieses Buch etwas fort, das vor über einem Jahrzehnt, in Marías’ Roman „Alle Seelen“, begann. Damals lebte der Icherzähler, in mancher Hinsicht ein Alter Ego des Autors, als Universitätslektor in Oxford, um schließlich nach Madrid zurückzukehren und eine Familie zu gründen. Jener Roman führte nach Erscheinen ein solches Eigenleben zwischen Fiktion und Wirklichkeit, dass Marías ihm Jahre später ein Erklärungsbuch folgen ließ. „Schwarzer Rücken der Zeit“ ist ein Nichtroman, der erläutert, dass „Alle Seelen“ kein Schlüsselroman sei, der Icherzähler nicht mit dem Autor identisch und die auftretenden Figuren höchstens zusammengesetzt seien aus verschiedenen Eigenschaften mehrerer lebender Personen. Eine jener Personen habe sich wiedererkannt in der Romanfigur Toby Rylands und den Roman wütend ins Gras gepfeffert, weil darin die Rede war von Rylands’ früherer Geheimdiensttätigkeit: etwas, das auf die Person tatsächlich zutraf, was Marías jedoch gar nicht wusste.

Die Koinzidenz war wohl zu schön, um sie literarisch ungenutzt zu lassen; nach weiterem unterirdischem Blubbern wurde sie zur Inspirationsquelle für den vorliegenden Roman, in dem Marías’ alter Icherzähler, nun getrennt von Frau und Kindern, wieder in England lebt. Eine literarische Reinkarnation von Toby Rylands, den Marías am Ende von „Alle Seelen“ hatte sterben lassen, tritt in Gestalt des emeritierten Professors Peter Wheeler auf. Durch ihn kommt der Erzähler an einen Job in einer supergeheimen Gruppe innerhalb des britischen Geheimdienstes, die sich mit einer Mischung aus psychologischem Profiling und Hellseherei beschäftigt. Seine Aufgabe besteht darin, anhand von Gesprächen, denen er verdeckt beiwohnt, Mutmaßungen über Personen anzustellen in der Art von: Ist dieser Mann der, der er zu sein vorgibt? Würde diese Frau jemanden umbringen können? Wohin diese klandestine Profiling-Tätigkeit führt, bleibt offen.

Bislang umkreist dieser erste Romanteil obsessiv sein Thema, das er gleich im ersten Satz anspricht: „Man sollte niemals etwas erzählen […].“ Der Roman macht sich auf, nach den fatalen Fallstricken der menschlichen Kommunikation zu suchen; nach der Sprache als Mittel des Verrats. Zum einen verrät sich der Mensch beim Reden selbst, was den Profiling-Experten des MI6 ihre Tätigkeit erst ermöglicht. Zum anderen kann er, ob wissentlich oder unwissentlich, andere verraten.

Zu den fesselndsten Passagen des Buches zählt in diesem Zusammenhang der Abschnitt, worin der Erzähler sich nachts in Wheelers Arbeitszimmer in die Geschichte des spanischen Bürgerkriegs vertieft. Dies ist bester Marías, wie er die Schicksale von verunglimpften Helden, gefeierten Verrätern und unschuldigen Opfern von Propaganda und Terror erzählend verwebt und sein Thema „Was kann passieren, wenn man redet? Was ändert sich, wenn man schweigt?“ in allen Facetten ausleuchtet. Dabei zeigt sich der Erzähler ungewohnt politisch, spart auch nicht mit Seitenhieben auf das postfranquistische Spanien. Dem Erzähler in „Alle Seelen“ dagegen hätte nichts ferner gelegen als politische Stellungnahmen. Überhaupt ist es eine Eigenschaft von „Dein Gesicht morgen“, Klartext zu reden, was das eigene Verdikt, man solle niemals etwas erzählen, kommentiert und konterkariert.

Das beginnt damit, dass sein ehemals anonymer Icherzähler demonstrativ mit einem Namen versehen wird. Jacques Deza, wie er nun heißt, hört je nach Gesprächspartner ebenso auf Jaime, Jacobo oder Jack. Zahlreiche Personen und Ereignisse der Zeitgeschichte tauchen mit ihren Klarnamen auf und werden genüsslich kommentiert (etwa Margaret Thatcher, die in „Alle Seelen“ nie erwähnt wird, obwohl die Handlung doch, wie wir nun erfahren, während ihrer Regierungszeit spielt). Die Zeitgeschichte selbst übernimmt gleich eine Hauptrolle. Neben dem spanischen Bürgerkrieg wird der Zweite Weltkrieg thematisiert und mit den Kriegen die Diskreditierung der Sprache als Instrument des Verrats und der Propaganda.

„Dein Gesicht morgen“ lässt die leichtfüßig melancholische, poetisch- philosophische Grundstimmung von Marías’ früheren Romanen weit hinter sich. Außergewöhnlich monothematisch ist dieser Roman, besessen von seinem Thema, das er thesenhaft einkreist. Nun muss ein Thesenroman nicht langweilig sein. Zudem legt Marías genügend Spuren, um Neugier für Teil 2 zu wecken. Wird die Herkunft des geheimnisvollen Blutflecks auf Wheelers Treppe geklärt werden? Was will die Frau, die dem Erzähler durch das nächtliche London folgt?

Doch diese der Genreliteratur entlehnten Kunstgriffe täuschen nicht darüber hinweg, dass Marías diesmal selbst zum Opfer der eigenen Sprachgewandtheit wird. Klare Sachverhalte werden so häufig neu formuliert und umschrieben, dass sich der linguistische Genuss öfter einmal verflüchtigt und schlichter Müdigkeit weicht. Wäre man der Autor, könnte man sagen, eben die Unzuverlässigkeit der Sprache sei ja das Thema; aber genau diesen Punkt hat man schnell verstanden, qualvoll endlose Reihungen von Adjektiven braucht es da nicht mehr. Viele Sätze dehnen sich so ins Uferlose, dass man ihnen syntaktisch gar nicht recht folgen kann. An der Übersetzung liegt das vermutlich nicht. Dennoch: Thematisch hat dieser unvollendete Fortsetzungsroman Interessantes und Neues angerissen, und nun möchten wir auch wissen, ob und wie das Bürgerkriegsthema weiter- und mit dem Geheimdienstthema zusammengeführt wird. Den theoretischen Überbau haben wir ja schon.

Javier Marías: „Dein Gesicht morgen“. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 488 Seiten, 24,50 Euro